Bei all den Unsicherheiten unseres Lebens scheint doch eine Tatsache unumstößlich zu sein: Es gibt mich, viele andere Menschen und die tausend Dinge um mich herum. Wenn ich morgens erwache, sehe ich mich darin jedes Mal bestätigt. Ich finde mich in meinem Bett vor, orientiere mich kurz und stehe auf. Und Stück für Stück zeigt auch sie sich wieder: die Welt, in der in mich bewege, die bestimmte Eindrücke und Gefühle in mir hervorruft und auf die ich von Moment zu Moment reagiere. In einem Satz: „Ich lebe in der Welt."
Aber oft ist das Selbstverständliche gar nicht so selbstverständlich, wenn man ein wenig genauer hinschaut und es kritisch beleuchtet. Ich meine beispielsweise unser sogenanntes „Ich" - den Dreh- und Angelpunkt des Lebens, den Ort aller Freuden und Sorgen, den Ausgangs- und Zielpunkt aller Bemühungen.Dabei möchte ich diese so überzeugende Erfahrung - „Ich lebe in der Welt" - nicht in Frage stellen. Ich möchte lediglich einige der Vorstellungen, die oft wie selbstverständlich mit dem Ich-Erlebnis verbunden sind, unter die Lupe nehmen. Und das werde ich aus einer buddhistischen Sichtweise heraus tun.
Wenn wir unsere Person, unser Ich ganz unbefangen betrachten, erscheint es spontan als etwas Ganzes und Einheitliches. Es erweckt den Eindruck von etwas Ungeteiltem und Geschlossenem. Aber ein näherer Blick zeigt uns eher ein komplexes Zusammenspiel von ganz unterschiedlichen Facetten und Bestandteilen. Die Buddhisten sprechen von fünf Komponenten der Persönlichkeit.
Natürlich gehört Körperlichkeit dazu, also das, was mit den äußeren Sinnen erkennbar ist, was Form und Gestalt, was materielle Eigenschaften hat. Außerdem zählen die Gefühle dazu, die unwillkürlichen inneren Kommentare in der Begegnung des Ich mit der Umwelt. Jeder einzelne Sinneskontakt ist von angenehmen oder unangenehmen oder auch von neutralen Empfindungen begleitet. Damit ist indirekt auch schon eine dritte, leicht zu übersehende Komponente angesprochen: die Tatsache, dass wir von all dem nur wissen, weil wir es erleben. Körper und Gefühle werden uns bewusst, sie erscheinen in unserer Wahrnehmung. Den nun folgenden vierten Aspekt werden wir leicht verstehen. Er besteht in den Reaktionen auf das Erlebte, in unserer Aktivität. Wir wollen nämlich wohltuende Erfahrungen wiederholen und schmerzliche vermeiden. Aus entsprechenden Gedanken werden bald Worte und Handlungen. Bleibt ein letzter Baustein unserer Person. Sehr vereinfacht ausgedrückt besteht er darin, dass das skizzierte Wechselspiel der vier vorher genannten Elemente stets im Gang bleibt und sich wie automatisch fortsetzt.Hören wir, wie eine berühmte buddhistische Nonne zu Zeiten des Buddha auf die an sie gerichtete Frage, was man sich denn unter einer Person vorzustellen hat, antwortete:
„Man spricht von ‚Persönlichkeit, Persönlichkeit‘. Was wird vom Erhabenen ‚Persönlichkeit‘ genannt?"
„Die fünf Daseinsgruppen, an denen angehaftet wird, werden vom Erhabenen ‚Persönlichkeit‘ genannt."
(Majjhima Nikaya 44 - Übersetzung: Mettiko Bhikkhu)
Ein Blick in den Personalausweis versichert uns, dass wir von Kindesbeinen an bis heute ein und dieselbe Person sind. Unser Name scheint für diese Identität zu stehen, und doch unterliegen wir einer Täuschung. In Wirklichkeit ändern wir uns nämlich ständig - körperlich, geistig, seelisch. Wir wachsen physisch und werden reifer und älter, nehmen an Erfahrung und Wissen zu, passen Wünsche und Verhalten an unsere Umgebung an, feilen an unserem Charakter. Wo ist da ein „Selbst" im eigentlichen Sinn des Wortes, also etwas, das stets das-selbe bleibt? Wo eine Eigenschaft oder ein Merkmal, an dem man uns immer und zweifelsfrei erkennen kann? Etwas, das fortwährend mit sich identisch bleibt? Tatsächlich gibt es das nicht, so etwas wie einen bleibenden Kern, sagt der Buddha.
„Sein" und „Nicht-Sein" sind aus buddhistischer Perspektive irreführende Begriffe. Sie behaupten etwas, das in der der Realität keine Entsprechung findet. Entstehen und Vergehen, Kommen und Gehen, Auftauchen und Verschwinden sind viel angemessenere Beschreibungen der Realität. Nur Wandel zeigt sich, wohin wir schauen. Auch ein als beharrend empfundenes Ich ist keineswegs etwas Statisches. Wer genau hinsieht, wird nur körperliche und geistige Vorgänge finden, die sich beide wechselseitig bedingen. Der Buddha bringt es so auf den Punkt:
‚Alles ist', das ist das eine Extrem. ‚Alles ist nicht', das ist das andere Extrem. Diese beiden Extreme vermeidend, lehrt der Vollendete die in der Mitte liegende Wahrheit...
(Samyutta Nikaya 12,15 - Übersetzung: Alfred Weil)
Aber schon ist die nächste Klippe in Sicht. Dort nämlich, wo wir dem Ich oder der Person Eigenständigkeit und Unabhängigkeit unterstellen. Existieren wir demnach aus uns selbst heraus, durch uns und für uns?
Wie die Flamme einer Kerze nur durch Docht und Öl bedingt scheint, so ein bekanntes buddhistisches Gleichnis, kommt auch die Ich-Erscheinung nur unter bestimmten Voraussetzungen zustande. Wie der Kerzenschein aus ihm ganz unähnlichen Dingen hervorgeht, besteht das erlebte Ich ebenfalls aus fremden, aus Nicht-Ich-Elementen. Wie sich die Flamme von Docht und Öl ernährt, lässt sich das Wesen einer Person ebenfalls mit einem fortgesetzten Ernährungsvorgang beschreiben. Wobei der Buddha Ernährung im weitesten Sinn des Wortes versteht. Ohne „Nahrung" haben weder Physisches noch Psychisches Bestand. Die Ich-Erscheinung geht also aus fortgesetzten Akten des Ergreifens und der Aneignung von Äußerem und Fremdem hervor.Dies betrifft natürlich - und leicht nachvollziehbar - den leiblichen Anteil einer Person. Was wir heute unseren Körper nennen, stand gestern noch als Kartoffeln und Gemüse im Regal des Supermarktes, war Luft der Atmosphäre und Wasser in der Leitung. Genauso „ernährungsbedingt" sind die gesitig-seelischen Aspekte jeder Person. So „nähren" die wechselnden Sinneskontakte unsere Gefühle und Wahrnehmungen. Die wiederum sind Anstoß und Nährstoff unserer Willensregungen und zahllosen Aktivitäten.
Auf die Dinge zugehen, sie ergreifen, sich mit ihnen beschäftigen, an ihnen hängen - das ist im Grunde diese Welt. Wenn aber jemand nicht mehr auf die Dinge zugeht, sie nicht ergreift, sein Gemüt nicht auf sie ausrichtet, sich nicht mit ihnen beschäftigt, den Hang nach ihnen nicht zulässt oder ihm nachgibt, in dem Gedanken ‚Da ist gar kein Ich', wenn jemand nicht daran zweifelt oder unsicher ist, dass ‚nur Leiden erscheint, was auch immer erscheint, und nur Leiden schwindet, was auch immer schwindet', dann besitzt er unabhängig von anderen Wissen.
(Samyutta Nikaya 12,15 - Übersetzung: Alfred Weil)
Und wie sieht es eigentlich mit unserer Souveränität aus, sind wir so etwas wie der Herr im eigenen Haus? Ich meine, können wir darüber verfügen, wie sich unser Ich zeigt und welche Eigenschaften es hat?
Betrachten wir erneut unseren Körper. Da müssen wir sehr schnell zugeben, wie wenig Einfluss wir haben. Niemand kann bestimmen, dass sein Körper gesund, kräftig und belastbar ist, oder festlegen, von welcher Größe und welchem Aussehen er sein soll. Schon gar nicht, wie alt er wird. Unser Körper folgt seinen eigenen Gesetzen und hört nicht auf unsere momentanen Wünsche - allenfalls in einem sehr bescheidenen Umfang. Nicht viel anders verhält es sich mit den nicht-materiellen Aspekten unserer Person. Gefühle steigen auf und verschwinden nach ihren eigenen Regeln, Wahrnehmungen und Gedanken ebenso. Und bei unseren Gewohnheiten wird besonders deutlich, dass sie eher uns als wir sie im Griff haben.Weitgehend Fehlanzeige also in Sachen Selbstbestimmung des Ich. Das mussten allerdings schon die Gesprächspartner des Buddha von rund 2.500 Jahren einräumen, wenn er sie darauf ansprach.
„Was meinst du? Wenn du sagst: ‚Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Aktivität, Bewusstwerden ist mein Selbst', übst du dann irgendwelche Macht dieser Art über sie aus, so dass du sagen könntest: ‚Meine Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Aktivität, Bewusstwerden soll so sein; meine Form soll nicht so sein'?"
„Nein, Meister Gotama."
(Majjhima Nikaya 35 - Übersetzung: Alfred Weil)
Die möglichen Konsequenzen aus diesen Einsichten sind viel weitreichender, als das im Augenblick ersichtlich sein mag, aber keinesfalls besteht Anlass zur Sorge. Die für viele vielleicht neuartige Sichtweise des Buddha nimmt uns nämlich nichts, jedenfalls nichts, was wir tatsächlich sind oder an Wertvollem besitzen. Sie nimmt uns aber die Illusionen, die wir bezüglich unseres Ich lange gepflegt haben. Der klare Blick auf die Realität hilft vielmehr und befreit, mag er im Moment auch befremdlich sein und uns verunsichern. Eine realistische Sichtweise macht das Leben leichter und lehrt, das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen.
Früher oder später kommen wir auf diesem Weg zu einer anderen Selbsteinschätzung. Wenn unser Ich gar nicht die Eigenschaften besitzt, die wir ihm gewohnheitsmäßig und gerne unterstellen, sehen wir viel weniger Grund, es auf einen goldenen Thron zu setzen und es unablässig zu bewundern und über die Maßen wichtig zu nehmen. Wir sehen uns vielmehr angeregt, vom hohen Ross herabzusteigen und ein wenig bescheidener zu werden. Diese Haltung hat viele positive Folgen, für uns selbst wie für andere. Mit ihr fällt es leichter, die Menschen um uns herum mit ihren Anliegen, Ängsten und Nöten wahr- und ernst zu nehmen. Das Zusammenleben wird harmonischer und entspannter, weil konfliktschaffendes egozentriertes Verhalten abnimmt. Wo immer uns unser Ich weniger bedeutsam erscheint und sich nicht in den Vordergrund drängt, erleben wir selbst eine große Entlastung. Da gibt es nicht mehr dauernd etwas zu verteidigen oder zu behaupten. Wir müssen nicht ständig Ansprüchen und Wünschen des Ego nachlaufen oder ihm sonst wie zu Diensten sein. Es kann sein, dass wir so mit der Zeit ein tiefes Verständnis dafür bekommen, warum der Buddha es geradezu für die größte Wohltat hielt, alle falschen Vorstellungen von einem Ich aufzugeben, und es in die folgenden Worte fasste:
Die Beendigung der Ich-Illusion, das ist wahrhaftig das höchste Glück.
(Vinaya/Mahavagga 1,3 - Übersetzung: Alfred Weil)
Buddhistische Monatsblätter 1/2014 - nach einem Vortrag im NDR Info: aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 12.1.2014; 7.15 bis 07.30 Uhr; gelesen von Kornelia Paltins.