Zeitschriftenartikel

Wie das Süßwasser, wenn es in den Ozean fließt ...

Interview mit dem Ehrwürdigen Thich Nhu Dien




Lotusbätter

Viele ehemalige Flüchtlinge aus Vietnam finden in der Hannoveraner Pagode Vien Giac einen Ort, an dem sie ihre kulturellen Traditionen pflegen und ihre Spiritualität leben können. Das gibt ihnen ein gewisses Heimatgefühl. Was steht im Mittelpunkt Ihrer Arbeit?

Ehrw. Thich Nhu Dien

Als ich hierher kam, hatte ich nicht vor, für eine längere Zeit in Deutschland zu bleiben. Doch als die vietnamesischen Flüchtlinge seit 1978 hier ein neues Zuhause suchten, brauchten sie meine geistliche Betreuung. Deshalb bin ich bis auf den heutigen Tag geblieben. Das Leben hat nicht nur materielle Aspekte, die geistigen Faktoren spielen darin eine nicht minder bedeutende Rolle. Deshalb denke ich, dass die Pflege der Kultur meiner Landsleute und die Praxis der Religion die wichtigsten Punkte in meiner Arbeit darstellen.

Lotusbätter

Gibt es auch Deutsche, die sich Ihrer Gemeinschaft angeschlossen haben und ihrer Praxis folgen?

Ehrw. Thich Nhu Dien

Es gibt natürlich einige Deutsche, die sich für unsere Tradition interessiert zeigten, doch die Zahl blieb gering, verglichen mit anderen deutschen Organisationen. In erster Linie habe ich meine Arbeit den Vietnamesen gewidmet, außerdem hat der Buddhismus seinem Wesen nach keine missionierenden Absichten. Die Interessierten finden selbst einen Weg, um sich dem Buddhismus zu nähern. In den 24 Jahren meiner Anwesenheit in der Bundesrepublik bin ich in unserem Tempel vielen interessierten Deutschen begegnet - Zehntausenden jedes Jahr. Es gab auch zwei Deutsche, die in der vietnamesischen Tradition ordiniert wurden. Einer von ihnen hat die Robe wieder abgelegt, der andere ist Hanh Hao, der sieben Jahre bei mir geblieben ist: Er praktiziert jetzt Meditation und „Reines Land", die zwei wichtigen Praxisformen des vietnamesischen Buddhismus.

Lotusbätter

Was hat sich in der spirituellen Praxis geändert, um den Gegebenheiten in Deutschland Rechnung zu tragen?

Ehrw. Thich Nhu Dien

Die Lehre des Buddha ist wie die Strömung. Auf dem Land fließt sie als Fluss, anders jedoch im Ozean. Der asiatische Buddhismus ist nicht ganz geeignet für die europäische Tradition, deshalb müssen wir uns hier auch den Gegebenheiten anpassen.

 

Lotusbätter

Buddhistische Ökumene wird bei Ihnen groß geschrieben, in der Pagode haben auch andere Gemeinschaften und Initiativen ein Zuhause. Wie stehen Sie zu den nicht-vietnamesischen buddhistischen Traditionen?

 

Ehrw. Thich Nhu Dien

Die Lehre des Buddha kennt keine Diskriminierung von Nationen und Herkunftsländern. Sie bezweckt einzig die Erlösung aller Lebewesen aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Deshalb soll man das Praktizieren des Buddhismus nicht mit den religiösen Traditionen der Länder A, B oder C verwechseln.

Lotusbätter

Der buddhistische Sangha in Deutschland hat viele Gesichter. Auffällig ist, dass asiatische und deutsche Buddhisten weitgehend für sich leben und praktizieren. Sehen Sie Ansätze, das zu überwinden?

Ehrw. Thich Nhu Dien

Als die Deutschen in die USA, nach Kanada oder Australien emigrierten, existierten in den jeweiligen Ländern auch bereits einheimische Religionen. Doch sie haben den Geist des Christentums dorthin gebracht, haben Schulen gebaut und sprechen oft heute noch die deutsche Sprache. Als die Asiaten den Buddhismus nach Europa brachten, war die Situation ähnlich. Viele Deutsche folgen dem Buddhismus, und in der Anfangszeit gibt es sicherlich viele Schwierigkeiten zu überwinden. Doch mit der Zeit wird ein geeigneter Raum entstehen, aus dem ein deutscher Buddhismus erwachsen wird.

Lotusbätter

Ordinierte Mönche und Nonnen gibt es in der Bundesrepublik nur sehr wenige. Geben Sie dem Buddhismus bei uns auf Dauer eine Chance, wenn das so bleibt?

Ehrw. Thich Nhu Dien

In allen bisherigen Traditionen spielten die Ordinierten immer eine bedeutende Rolle. Als der Buddha noch lebte, betonte er ebenfalls die Dreiheit von Buddha, Dharma und Sangha. Doch jede Entwicklung braucht ihre Zeit, in Vietnam waren es tausend Jahre, in China siebenhundert, in Japan fünfhundert Jahre. Der Buddhismus ist erst zweihundert Jahre in Deutschland, vielleicht wird es einige hundert Jahre später viele deutschen Ordinierte geben. Ich sehe in der jetzigen Situation keinen Grund zur Beunruhigung.

Lotusbätter

Laien - männliche wie weibliche gleichermaßen - erfüllen in Europa mehr und andere Aufgaben als in Asien. Sie treten sogar als Lehrerinnen und Lehrer auf, und die meditative Praxis ist unter ihnen weit verbreitet. Maßen sie sich damit etwas an, was ihnen nicht zusteht oder erfüllen sie eine in der konkreten historischen Situation notwendige Funktion?

Ehrw. Thich Nhu Dien

Im Buddhismus gibt es keine Diskriminierung zwischen Männern und Frauen, besonders nicht bezüglich ihrer gemeinsamen Buddhanatur. Im Kern gibt es auch keine Verschiedenheit zwischen den Ordinierten und den Laien. Dennoch ist das Leben eines Ordinierten frei von den Sorgen um die Familie und daher unbeschränkter in seinem Aktivitätsfeld, während sich die Laien noch um ihre Familien kümmern müssen. Freilich ist es nicht zu bestreiten, dass es auch Ordinierte gibt, die nicht ernsthaft praktizieren. In der Anfangszeit der Entwicklung des Buddhismus können die Laien alle Aktivitäten im Rahmen der Sila ausüben, daran ist nichts Verkehrtes.

Lotusbätter

Kann es so etwas wie ein „gleichberechtigtes" Miteinander von Ordinierten und Laien geben, oder ist eine gewisse Hierarchie zwingend?

Ehrw. Thich Nhu Dien

In vielen Traditionen wird der Ordinierte wie ein Vater oder ein Lehrer betrachtet, der Laie wie ein Schüler oder ein Kind. Eine absolute Gleichberechtigung zwischen Vater und Sohn ist nicht möglich. Zwischen den Ordinierten und den Laien gibt es die Gleichheit bezüglich ihrer Buddhanatur, aber keine zwischen Lehrer und Schüler beziehungsweise zwischen Vater und Sohn.

Lotusbätter

Mitte der achtziger Jahre hat die DBU schon einmal einen Vorstoß unternommen, für den Buddhismus in Deutschland die Anerkennung als Körperschaft des Öffentlichen Rechts zu erhalten. Damals scheiterte der Versuch „mangels Masse". Ist das ein Ziel, das Sie vor Augen haben? Immerhin gehören zu Ihrer Kongregation rund 60.000 Mitglieder!

Ehrw. Thich Nhu Dien

Seit 1985 oder 1986 möchte ich mit den deutschen Buddhisten zusammenarbeiten, doch ein gemeinsamer Nenner wurde noch nicht gefunden. Aus diesem Grund kamen wir auch mit der Anerkennung des Buddhismus als Körperschaft des Öffentlichen Rechts nicht voran. Doch in Zukunft sollte dieses Ziel erreicht werden. Die Vietnamesen werden nach wie vor nur als Minderheit in Deutschland existieren, obwohl etwa 100.000 von uns hier leben und davon ca. 60.000 Buddhisten sind, doch wir hoffen, dass mehr Deutsche dem Buddhismus beitreten werden.

Lotusbätter

Könnten Sie sich eine Mitgliedschaft in der DBU vorstellen?

Ehrw. Thich Nhu Dien

Ich kann diese Möglichkeit nur in Erwägung ziehen, wenn in der DBU drei Gremien oder Komitees existieren würden: eines für die Ordinierten, eines für die Laien und eines für Ordinierte mit Familie.

Lotusbätter

Inwieweit müsste die DBU für einen solchen Schritt die geeigneten Voraussetzungen schaffen? Müsste sie sich verändern, was ihre Aufgaben und Aktivitäten beziehungsweise ihre organisatorischen Strukturen betrifft?

Ehrw. Thich Nhu Dien

Die DBU braucht sich nicht zu ändern. Der existierende Rat soll weiterhin die Funktion ähnlich wie Bundestag oder Regierung übernehmen. Der Ratsvorsitzende soll von dem Rat gewählt, und das Amt von einem Laien bekleidet werden. Ein zweites Gremium besteht, wie ich schon erwähnte, aus Ordinierten, die aber wie in der japanischen, tibetischen oder einigen anderen Traditionen eine Familie haben, und es soll eine Funktion vergleichbar dem Bundesrat ausüben. Das dritte Gremium, bestehend aus Ordinierten, die in einem Kloster und nicht zu Hause und im Zölibat leben, fungiert in etwa wie das Präsidentenamt. Somit hätten wir eine Struktur auf vertikaler und auf horizontaler Ebenen.
Natürlich darf der Sangha die Laien nicht unterdrücken. Die drei Komitees arbeiten auf der vertikalen Ebenen, und die Beschlüsse werden in den horizontalen Ebenen umgesetzt. Das heißt wenn eine Angelegenheit diskutiert wird, soll sie von dem Laien-Komitee abgestimmt werden, danach von dem Gremium für Ordinierte mit Familie und dann von dem für im Zölibat lebenden Ordinierten. In einer solcher Struktur wird der vietnamesischen Buddhismus sicherlich seinen Platz finden. Diese Struktur hat nicht nur einen augenblicklichen Wert, sie wird sogar Früchte in langer Zukunft tragen und dadurch zu einer positiven Entwicklung des deutschen Buddhismus beitragen.

Lotusbätter

Auch ohne eine formelle Mitgliedschaft gibt es viele Möglichkeiten der Kooperation und des Austausches. Die Buddha-Dharma-Expo 2000 ist ein gutes Beispiel dafür, und auch mit einem früheren Kongress war die DBU in der Pagode Vien Giac zu Gast. Was versprechen Sie sich von solchen Kontakten?

Ehrw. Thich Nhu Dien

Wie ich oben schon erklärte, war der Buddhismus, als er nach Deutschland kam, durch die vietnamesische, tibetische, thailändische und so weiter Tradition gekennzeichnet. Doch wie das Süßwasser, wenn es in den Ozean fließt, salzig wird, wird sich auch der Buddhismus in diesem Land in der zweiten und dritten Generation zu einem deutschen Buddhismus wandeln. Deshalb denke ich, dass in den ersten zwanzig, dreißig Jahren Unterschiede existieren, die wir aber nach hundert Jahren nicht mehr zu überbrücken brauchen.

Lotusbätter:

Wir danken Ihnen für das Gespräch!

 

Zur Person

Der Ehrwürdige Thich Nhu Dien leitet die Congregation der „Vereinigten Vietnamesischen Buddhistischen Kirche" und die „Vereinigung der Buddhistischen Vietnam-Flüchtlinge Deutschland e.V." Er ist Abt des Klosters „Pagode Vien Giac" in Hannover, die als größter buddhistischer Sakralbau Europas gilt. Der Ehrwürdige Thich Nhu Dien lebt seit 24 Jahren in Deutschland. Im vietnamesischen Buddhismus sind die Reine-Land-Schule, der chinesische Chan und die Ahnenverehrung besonders prägend. Die Fragen stellte Alfred Weil.


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