Alfred Weil
Nein, das lassen wir uns nicht nehmen; unseren freien Willen! Schließlich ist es doch gerade das, was uns von den instinkt-getriebenen Tieren unterscheidet: die Möglichkeit frei zu entscheiden, was wir tun und was wir lassen.
So oder so ähnlich mögen viele von uns denken und jeden Zweifel, es könnte sich doch anders verhalten, schnell beiseiteschieben. Zumal: Bewundern wir nicht Menschen, die einen starken Willen haben? Die wissen, wo es lang geht und ihre Ziele geradlinig und mit Nachdruck verfolgen?
Doch wie so oft lohnt es sich, gerade das vermeintlich Selbstverständliche einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Dazu möchte ich aus buddhistischer Sicht ein paar Fragen stellen. Zum Beispiel, wann wir überhaupt etwas wollen!? -
Eigentlich bedarf es gar keiner komplizierten und langwierigen Untersuchung, um festzustellen, dass Willensimpulse nur unter bestimmten Bedingungen aufkommen. Nämlich dann, wenn irgendeine Unzulänglichkeit oder Unzufriedenheit im Spiel ist; wenn sich ein Mangel zeigt.
Oft ist es ein unmittelbar gefühlter Mangel, ein direkt spürbares Manko. Das mag unseren Körper betreffen, etwa wenn wir Kälte empfinden, Hunger verspüren oder unter Zahnschmerzen leiden. Ist da die Absicht verwunderlich, einen Mantel anzuziehen, den nächsten Imbissstand anzusteuern oder einen Termin beim Zahnarzt zu vereinbaren? Vielleicht ist unser Anliegen psychischer Natur, wir empfinden Trauer, Enttäuschung oder Einsamkeit. Da ist doch der Wunsch überaus naheliegend, eine Freundin oder einen Freund anzurufen, um Trost zu suchen oder einen Rat einzuholen. Oder unser Geist kommt mit einer Situation nicht ganz zurecht. Wir kennen einen Weg nicht und entschließen uns daher, jemanden zu fragen. Wir haben Fragen über das Dasein und wollen deshalb bei einer Religion mehr über Leben und Tod erfahren.
Neben empfundenen gibt es jedoch zahllose zunächst nur erkannte, vermutete, erwartete oder befürchtete Unzulänglichkeiten: Es wird heute noch Regen geben, also will ich einen Schirm mitnehmen. Mein Job steht auf der Kippe; das motiviert mich, die Stellenanzeigen zu studieren. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass die Zukunft voller Unwägbarkeiten und Risiken besteht. Und das nicht nur bis zu meinem physischen Ende, sondern darüber hinaus. Wird da nicht der Wille entstehen, sein Leben anders auszurichten und vielleicht einen spirituellen Weg einzuschlagen?
Um einmal die Gegenprobe zu machen: Wir verhalten wir uns den, wenn wir einen Mangel weder fühlen noch eine Ahnung von seinem Vorhandensein haben? Ich denke einmal daran, dass bei uns vielleicht ein Vitaminmangel besteht, wir ihn aber gar nicht bemerken und uns auch niemand darauf aufmerksam macht. Dann kommen wir nicht auf die Idee, in eine Apotheke zu gehen und Abhilfe zu schaffen.
Die Beispiele zeigen deutlich: Einen Willen „an sich" gibt es nicht, er zeigt sich vielmehr jeweils als Reaktion in einer bestimmten Situation. Er ist also „bedingt" und schon insofern nicht „frei".
Gehen wir dieser Spur einmal näher nach, dann entdecken wir bald die beiden von dem Buddha genannten Quellen, die den Strom der Willensbildung speisen. Die Rede ist von Willensbildung, denn was sich unserem Bewusstsein als fertiger Entschluss präsentiert, ist tatsächlich das Ergebnis eines mehr oder weniger langen und komplizierten Vorganges.
Wichtig ist dabei zum einen der ganze Komplex von Bedürfnissen, Anliegen, Neigungen und Drängen, die das menschliche Wesen ausmachen. Wenn sie sich nach ihrem inneren Rhythmus melden, stoßen sie auch die Willensbildung an. Kommt meine Naschhaftigkeit zum Vorschein, ist schnell der Gedanke da: „Ich möchte Schokolade." Zeigt sich gerade meine Neugierde, wird daraus: „Ich will Nachrichten hören, mit der Nachbarin sprechen oder meine Mails ansehen."
Neben diesen im Seelischen, in unserer Psyche wohnenden und spontan aufsteigenden Impulsen spielt freilich auch unser Geist bei der Willensbildung eine gewichtige Rolle. Verstand, Wissen, Einsicht usw. sprechen ebenfalls mehr oder minder vernehmlich mit. „Morgen ist Feiertag, dann will ich heute noch schnell einkaufen, damit ich nicht hungern muss." „Das Wohlergehen aller ist mir wichtig, also will ich so rücksichtsvoll und wohlwollend handeln wie möglich." Es ist der kommentierende, bewertende und urteilende Geist, der mir sagt, was mir nutzt oder schadet, und so den Willen entsprechend beeinflusst. Es sind die im Laufe des Lebens entstandenen Anschauungen, Leitbilder und Theorien, die die Richtung vorgeben und unsere Motive mit bestimmen.
Damit ahnen wir schon, dass der Prozess der Willensbildung nicht immer schnell und glatt vonstattengeht. Reibungen und Konflikte sind vorprogrammiert, wenn innere Dränge und Einsichten sich widerstreiten. Wieder sagt das Verlangen „Ich brauche jetzt eine Tafel Schokolade", aber das bessere Wissen wendet ein, dass viel Zucker schädlich ist. Oder anders herum: Mir ist vollkommen klar, dass die Übungen für meine Rückenmuskulatur genau das Richtige sind, doch meine Neigung zu Bequemlichkeit will mir jede Bewegung und Anstrengung ausreden.
Willensbildung bedeutet also oft einen inneren Kampf zwischen den genannten Komponenten beziehungsweise ein Austarieren ihrer jeweiligen Gewichte. Am Ende entscheidet die Dominanz der einen oder anderen. Wo starke und drängende Anliegen auf eine eher schwache Einsicht treffen, wird sich der Wille zur Befriedigung eines Wunsches durchsetzen und die Einwände der Vernunft beiseiteschieben. Und genauso mag der momentane klare Blick auf die schädlichen Nebenwirkungen einer Sache eine nur zarte Verlockung im Handumdrehen auflösen. Länger dauert eine Entscheidung, wenn Neigung und Urteil in etwa das gleiche Gewicht in die Waagschale werfen. So mag das Für und Wider bei einer Berufswahl oder bei einem Reiseziel eine Entscheidung lange hinausziehen.
Nicht nur bei seinem Zustandekommen ist der Wille also unfrei, er ist es auch hinsichtlich seiner Ziele. Er kann sie keineswegs beliebig wählen oder willkürlich bestimmen. Der Wille zielt nämlich gesetzmäßig darauf, einen empfundenen oder erkannten Mangel zu beseitigen. Er strebt stets von der unangenehmeren Situation weg und zur angenehmeren hin. Er ist auf Verbesserung aus. Nur wenn das als bestmöglich Betrachtete - aus welchen Gründen auch immer - nicht erreichbar ist, nimmt er notgedrungen mit zweit- oder drittrangigem Ersatz Vorlieb. Wenn wir die Taube auf dem Dach nicht erreichen können, geben wir uns eben mit dem Spatz in der Hand zufrieden.
Und woher kommt schließlich ein „starker" bzw. ein „schwacher" Wille? Gibt es von Natur aus „willensstarke" und „willensschwache" Menschen? Die Antwort ist bei den oben genannten Faktoren der Willensbildung zu suchen. Ausschlaggebend ist das Verhältnis der ausgemachten Unzulänglichkeit zu den Möglichkeiten, sie zu beseitigen. Je drängender und schmerzhafter eine Mangelsituation erlebt wird, desto anziehender und überzeugender kommt uns dann die rettende Alternative vor. Ein sich ausbreitendes Feuer im Zimmer lässt einen ebenso spontanen wie unwiderstehlichen Willen entstehen, der Gefahrenzone durch den Notausgang zu entgehen. Wenn dagegen zwischen der Ist-Situation und einer anderen Wahlmöglichkeit kein nennenswerter Unterschied besteht, wird die Willensregung entsprechend schwach ausfallen. Suchen wir in einem Restaurant einen geeigneten Tisch, aber von den freien Plätzen erscheint keiner deutlich attraktiver, werden wir womöglich eine ganze Weile ratlos umherschauen.
Eine Zwischenbilanz an dieser Stelle muss lauten, dass der Wille keineswegs so frei ist, wie es vielleicht den Anschein hat. Sein Aufkommen unterliegt ebenso festen Regeln wie seine Richtung oder seine Stärke. Möglicherweise überrascht uns diese Erkenntnis, vielleicht provoziert, beängstigt oder schockiert sie uns sogar. Wenn all das stimmt, ist uns dann gerade unser freier Wille abhandengekommen?! Was sind aber das Menschsein und das menschliche Leben ohne einen freien Willen wert?
Doch zu ernsthafter Sorge besteht gar kein Anlass. Zunächst, weil man nichts verlieren kann, was man nie wirklich besessen hat. Zum anderen: Für unser Wohl ist ein freier Wille gar nicht nötig. Ganz im Gegenteil: Die Tatsache der strikten Bedingtheit des Willens kann geradezu unserem Glück dienen und unsere Rettung bedeuten!
Ein „freier", das heißt unbedingter, völlig souveräner Wille wäre doch völlig unkalkulierbar. Er würde für uns ein nicht kalkulierbares hohes Risiko bedeuten, je nachdem, wie er sich äußert. Vielleicht richtet er sich in seiner Souveränität auf etwas völlig Unsinniges oder sogar auf etwas ausgesprochen Schädliches. Deshalb noch einmal: Zu unseren Vorteil ist ein freier Wille gar nicht nötig. Wohl aber ein recht gerichteter Wille, der alles Ungute und Unerfreuliche ausschließt; sich ausschließlich an dem festmacht, was für uns tatsächlich positiv und heilsam ist.
Genau darauf bauen letztlich die großen spirituellen Lehrer, und der Buddha tut es ebenfalls. „Vom Geiste geh` n die Dinge aus", weiß er und deshalb setzt er auf Einsicht und Verständnis. Weil die Menschen gewöhnlich falsche Vorstellungen über die Lebenswirklichkeit haben, hängen ihr Wollen und Handeln an Irrtümern und Illusionen. Ihr Wille richtet sich nach falschen Leitbildern. Aber weil der Wille gebunden ist, kann er auch auf Besseres und Heilsameres gelenkt werden. Am meisten, wenn die Großen und weiter Blickenden dieser Welt unseren Geist mit bisher unbekannten, aber tiefen und überzeugenden Wahrheiten bekannt machen. Wenn sie die Freiheit zeigen und den Weg dahin.
Jede wirklich eingesehene Wahrheit hat eine ungeheure Macht. Sie wandelt den Willen in ihre Richtung, ja sie zwingt ihn geradezu, sich nach ihr zu richten. Wer das Schädliche einer Sache plastisch vor Augen hat, der kann sie - wenigstens auf Dauer - nicht mehr wollen. Und umgekehrt: Wer den Wert von etwas unzweideutig erkannt hat und von dessen Vorzügen zutiefst überzeugt ist, der muss es auch wollen.
Der Buddha hat rund 45 Jahre lang gelehrt, dass gerade das, was die meisten Menschen erstreben, nur Schein und Trug ist, wandelbar und auf Dauer nicht zufriedenstellend. Und er hat ihren Blick auf das Eigentliche gelenkt. Seine Worte haben Geist und Herz seiner damaligen wie seiner heutigen Schüler so verändert, dass sie immer weniger und schließlich gar nichts mehr Unheilsames wollen konnten, aber die uneingeschränkte Freiheit anstreben mussten. Und sie auch erreicht haben. Doch nicht, weil ihr Wille frei war, sondern weil er sich natürlicherweise besserer Einsicht, Wissen und Weisheit gebeugt hat.
Wir verabschieden uns mit dem Gruß: Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden finden.
Nach einem Vortrag in NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 10.1.2016, 7.15 bis 07.30 Uhr; gelesen von Kornelia Paltins. – Buddhistische Monatsblätter Nr. 1/2016