Wie antworten Buddhistinnen und Buddhisten auf die Frage, was nach dem Tod kommt? Gibt es ein persönliches Weiterleben nach dem Tod oder nicht? Alfred Weil, kompetenter Autor von mehreren Büchern zum Thema, diskutiert die unterschiedlichen Positionen.
„Da war ich doch irgendwie erleichtert", sagt Thomas G. „Ich meine, als ich davon hörte, dass Buddhisten an Fortexistenz glauben. In dem Umfeld, in dem ich groß geworden bin, bedeutet Tod jedenfalls das Aus. Ende, nichts geht mehr. Wenn die Buddhisten Recht haben, hat man also noch eine Chance. Aber was das konkret bedeuten soll, kann ich mir nicht vorstellen."
Es ist nicht verwunderlich, wenn Thomas G. unsicher und ratlos ist. Zu weit liegen doch die Antworten auseinander, die er und wir heute auf die Frage bekommen, was nach dem Tod geschieht.
Für die Naturwissenschaften liegen die Fakten auf der Hand: Bewusstsein ist ohne körperliche Voraussetzungen nicht möglich. Unsere Sinneswahrnehmungen und Gefühle, Emotionen und Gedanken haben eine physische Grundlage. Fällt die weg, enden auch alle psychischen Phänomene. Und was beobachten wir bei einem sterbenden Menschen? Eben genau das. Die körperlichen Funktionen werden schwächer und hören irgendwann ganz auf. Der Reihe nach enden Herzschlag und Hirntätigkeit; die vegetativen Funktionen bzw. die biologischen Prozesse des Körpers kommen zum Erliegen. Konsequenz: Menschliche Existenz hat aufgehört. Das Leben ist beendet, von der einstigen Person ist nur noch ihr materieller Überrest für eine Weile sichtbar. Das Überzeugende an dieser Einstellung? Sie hat den unwiderlegbaren Nachweis körperlichen Verfalls für sich.
Daneben behaupten sich nach wie vor christliche Positionen; nicht ganz so selbstverständlich wie in früheren Zeiten und nicht ganz so selbstbewusst wie einst. Im Kern geht es hier um die Unterscheidung zwischen dem sterblichen Leib und der unsterblichen Seele. Im Tod werden beide zunächst voneinander getrennt. Christen glauben jedoch an die Auferstehung und damit an eine künftige Wiedervereinigung der beiden nur vorübergehend getrennten Teile des Menschen für das ewige Leben, denn die „Person" ist mit dem Tod nicht endgültig vernichtet. Worauf sich diese Position stützt? Auf die Berichte von der Auferstehung Christi, einen traditionellen Glauben und die unterstellte Gnade Gottes.
In unseren Tagen hat Thomas G. allerdings noch mehr „Wahlmöglichkeiten", wenn er sich ein Bild machen will. Abgesehen von den Erklärungen anderer theistischer Religionen bieten sich buddhistische Lehren an. Gerade, was die angesprochene Thematik betrifft. Fortexistenz und Wiedergeburt sind längst auch hierzulande geläufige Vokabeln. Und mit ihnen weitere Vorstellungen und Aussagen bezüglich des „Danach".
„Meine anfängliche Begeisterung dauerte allerdings nicht sehr lange, und mein schönes Bild vom Buddhismus verlor erst einmal an Glanz", lässt uns Thomas G. aber auch wissen. „Als ich nämlich Genaueres wissen wollte, schlaue Bücher wälzte und verschiedene Leute mit meinem Anliegen löcherte, folgte schnell die Ernüchterung. Wie wenn man einen juristischen Rat braucht: Du fragst drei Fachleute und bekommst mindestens drei Antworten. Dumm nur, wenn die nicht unter einen Hut passen."
Wie es scheint, ist Thomas G. auch auf der buddhistischen Spur vorerst noch nicht an sein Ziel gelangt. Nicht verwunderlich, denn auf die Frage nach dem Weiterleben nach dem Tod gibt es auch unter Buddhisten sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Aussagen.
Für eine eher kleinere Gruppe gilt ebenfalls die These vom großen Finale: Der physische Tod eines Menschen bedeutet das Ende seines Daseins. Alles, was mit Transzendenz, nachtodlicher Existenz usw. zu tun hat, hat für sie keinen realen Hintergrund. Es ist frommes Wunschdenken und Ausdruck von Naivität.
Den Einwand, dass eine solche Haltung im Widerspruch zu zahlreichen ganz anders lautenden Aussagen des Buddha steht, lassen sie nicht gelten. Entsprechende Passagen in den überlieferten kanonischen Texten betrachten sie als nicht -authentische spätere Einfügungen und eher volksbuddhistische Elemente.
„Es geht weiter, aber ..." - so könnte man eine zweite und recht verbreitete Position beschreiben. In ihr kommt zum Ausdruck, dass der Sterbevorgang mehr eine Wende denn ein Ende ist. Der Daseinsprozess erfährt mit dem Tod eine durchaus dramatische Zäsur, setzt sich aber als solcher fort.
Um diesen Vorgang zu erklären, greifen die Interpreten auf die Lehren des Buddha von den Fünf Daseinsfaktoren (Khandha) zurück. Jede Person, jedes empfindende Wesen lässt sich tatsächlich als das Zusammenspiel von fünf unterschiedlichen Komponenten erklären. Danach machen Körperlichkeit (Form), Gefühl, Wahrnehmung, Denken/Wollen und die gesamte Dynamik des Bewusstwerdens zusammen das aus, was wir empirisch Menschen, Tiere usw. nennen.
Mit dem Tod nun löst sich die individuelle, meist für einige Jahrzehnte relativ stabil erscheinende Komposition der fünf Faktoren auf. Die bisherige „persönliche Existenz" geht unter, die bisherige spezifische Einheit von „Körper" und „Geist" zerfällt. Aber die den fünf Komponenten innewohnende Dynamik fügt sie in einer veränderten Konstellation wieder zu einem Wesen zusammen, das also „wiedergeboren" wird. Und was haben die „alte" und die „neue" Person miteinander zu tun? Handelt es sich dabei um dieselbe Person oder um eine andere? Zur Veranschaulichung hilft das bekannte Gleichnis, wie durch eine brennende Kerze eine weitere entzündet wird. Es wird nicht dunkel, wenn Docht und Wachs der einen Kerze verbraucht sind, die Flamme springt auf die nächste und findet dort weitere Nahrung. Beide Kerzen sind etwas Verschiedenes, aber durch den nicht unterbrochenen Brennvorgang sind beide miteinander verbunden.
Diese Erklärung lässt sich so charakterisieren: Fortexistenz wird als Tatsache anerkannt, aber nicht im Sinne eines persönlichen Weiterlebens. Der Daseinsprozess setzt sich fort, insoweit dessen Bedingungen weiter bestehen und ihn so immer neu anstoßen. Wie die Flamme der einen Kerze das Material der anderen ergreift und sie zum Leuchten bringt.
Wer ein solches Verständnis von Tod und Fortexistenz hat, kann sich mit Recht auf den Buddha berufen, denn der hat in der Tat „Ich", „Leben" oder „Welt" als das fortgesetzte Wechselspiel allein der Fünf Khandha beschrieben. Aber bedeutet das auch, dass es dann so etwas wie ein persönliches Weiterleben gar nicht geben kann? Diese Schlussfolgerung jedenfalls wird immer wieder und - wie selbstverständlich - gezogen. Und doch würde gerade das in einem merkwürdigen Widerspruch zu vielen Äußerungen des Erwachten stehen, die nur zu einem Schluss kommen lassen: Die Ich-Erfahrung setzt sich jenseits des Todes fort. Fortexistenz ist auch etwas Persönliches.
Wie anders ließen sich sonst die folgenden Aussagen im Palikanon erklären? Wie oft wird der Erwachte beispielsweise gefragt, wo denn X oder Y nach ihrem Tod wiedergeboren wurden, und er gibt eine entsprechende Antwort! Das buddhistische Musterehepaar Nakulapita und Nakulamata will von dem Buddha wissen, was sie beide denn tun müssen, um sich auch im nächsten Leben wieder zu begegnen. Der Meister sagt es ihnen. Verschiedene Devata, übermenschliche Wesen also, treten in Kontakt mit dem Buddha und einige berichten ihm: „Zu Lebzeiten, früher war ich der und der mit dem und dem Namen ..." Und schließlich: Wir können lesen, was der Buddha aus seiner Rückerinnerung über seine eigenen früheren Leben mitteilt. Wo er geboren wurde, welchen Namen er trug und was er erlebte; unter welchen Umständen er starb, um anderswo wiederzuerscheinen - mit diesem Namen und jenen Erlebnissen. Über viele Weltzeitalter hinweg ...
„Nun gut, inzwischen habe ich mich damit abgefunden. Die Frage kann wohl nicht abschließend geklärt werden. Immerhin bleibt die tröstliche Möglichkeit, einfach abzuwarten und zu sehen, was passiert. Spätestens wenn wir sterben, werden wir ja wissen, ob das Licht einfach ausgeht oder ob es - vielleicht nach einigem Flackern zwischendurch - doch wieder hell wird!? Ich bin gespannt!"
Die Ratlosigkeit von Thomas G. ist leicht nachzuvollziehen. Eine Frage und drei Antworten, und das nicht gerade in einer belanglosen Nebensache. Was also tun? Wirklich abwarten, bis wir es selbst erleben, oder gibt es schon vorher einen Ausweg aus der Verlegenheit? Mein Vorschlag ist ein zweifacher: tatsächlich unzutreffende Positionen zu benennen und scheinbar Widersprüchliches miteinander vereinbar zu machen.
Den Tod als das Ende zu betrachten, halte ich nicht für eine buddhistische Anschauung. Zu oft und zu eindringlich hat der Buddha auf die Tatsache des Daseinskreislaufes (Samsaro) und der anfanglosen Gefangenschaft der Wesen in ihm aufmerksam gemacht. Seine Belehrungen über die Fünf Daseinsfaktoren und über das Bedingte Entstehen (Paticcasamuppada) haben geradezu die aus sich heraus endlose Fortsetzung des Lebens zum Inhalt. Der Tod ist da nur ein markanter Wendepunkt und keine Endstation. Ich sehe keinen plausiblen Grund, Aussagen des Buddha über Fortexistenz und Wiedergeburt generell als unecht und als spätere Zusätze zu verstehen.
Bleibt die Frage, ob Fortexistenz ein persönlicher oder ein unpersönlicher Vorgang ist. Lebe also „ich" nach dem Tod weiter oder geht „es" nach dem Sterben weiter?
Tatsächlich stehen wir nicht vor einer Alternative, wir brauchen uns nicht für das eine oder gegen das andere zu entscheiden. Und es besteht schon gar keine Notwendigkeit, die buddhistische Überlieferung nach unserem Gutdünken zurechtzustutzen.
Die Lösung liegt in der besonderen Art und Weise, wie der Buddha lehrt. Da fällt nämlich auf, dass die gleichen Sachverhalte oft aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und in einer je unterschiedlichen Sprache dargestellt werden. Um das deutlich zu machen, wende ich mich nicht gleich unserem eigentlichen Thema - Tod und Fortexistenz - zu, sondern unserer momentanen und unmittelbaren Erfahrungswelt.
Auch unsere jetzige Lebenswirklichkeit spiegelt sich in den Belehrungen des Buddha recht verschieden. Auf der „Erlebnisebene" und in der „Erlebnissprache" kommen darin wie selbstverständlich Menschen und Tiere, Ich und Du, Personen und Wesen vor. Sie denken, reden und handeln, erfahren Freude und Leid, werden geboren und sterben. Und werden wiedergeboren! Das Gleiche - nun aus der höchstmöglichen Perspektive eines erwachten Geistes und verpackt in die dementsprechende „Durchschauungssprache" - liest sich völlig anders. Da ist nur noch vom bedingten Entstehen und Vergehen verschiedener Phänomene die Rede. Lediglich fünf Komponenten tauchen auf: Form und Gefühl werden bewusst, aus ihnen gehen Denk- und Willensakte hervor, und das Ganze setzt sich in seiner eigenen Dynamik fort. Da ist keiner mehr, der etwas tut und mit dem etwas geschieht. Aus Personen sind unpersönliche Vorgänge geworden. Eine andere Blickweise liefert einen anderen Anblick. Die Anwendung dieser Doppelperspektive auf das Leben hier und heute zeigt: Schon jetzt ist ein „Ich" im höchsten Sinne nicht vorhanden, wohl aber der nachhaltige Eindruck eines kontinuierlich erlebten Ich.
Damit lassen sich auch die Zweifel von Thomas G. auflösen. Was im Moment, was für das gegenwärtige Leben gilt, trifft auch auf Tod und Fortexistenz zu: Die verblendete Erlebensseite zeigt, dass die Bewusstseinsvorgänge über den Tod hinaus weitergehen und mit ihnen die subjektive Erfahrung von „Ich lebe weiter" einhergeht. Von der höchsten Ebene der Durchschauung existiert da aber nie ein „an sich bestehendes", „unveränderliches" und „autonomes Ich". Weder in diesem Leben noch danach ist etwas zu finden, das stets mit sich selbst identisch ist. Da ist Stetigkeit des Ich-Erlebens über den Tod hinaus ohne eine beharrende Ich-Substanz.
Diese Sichtweise hebt scheinbare Widersprüche im buddhistischen Lehrverständnis auf und kann problemlos Aussagen sowohl über das Nicht-Ich aller Phänomene (Anatta-Lehre) wie über die persönliche Fortexistenz gelten lassen. Und damit ergeben die so unterschiedlich erscheinenden Darstellungen des Buddha zum Thema alle einen Sinn.
Hinweis: Eine ausführlichere Darstellung des Themas ist für Band 9 der Serie „Form ist Leere - Leere Form" des Buddhistischen Studienverlags (Berlin) geplant; Schwerpunkt des Buches: „Karma und Wiedergeburt"; erscheint im Frühjahr 2011.