„Jeder Tag ein guter Tag" - das ist ein Motto, das bei Buddhistinnen und Buddhisten häufiger zu hören ist und dem man spontan gerne zustimmen möchte. Aber worauf spielt es eigentlich an? Will es das beschreiben, was ist? Oder eher das, was sein könnte oder sein sollte? Die Schilderung unserer Lebenswirklichkeit liest sich nämlich oft ganz anders. Sie kennt doch auch einiges an „schlechten Tagen".
Bei den Unzulänglichkeiten auf der persönlichen Ebene geht es los: Die Gesundheit lässt zu wünschen übrig. Irgendwo zwickt es oder sogar eine gefährliche Krankheit hat uns erwischt. Zwischenmenschliche Turbulenzen treten auf, sei es in der Partnerschaft oder der Ehe, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz. Finanzielle Engpässe und Sorgen bedrücken uns vielleicht. Wir stehen vor gescheiterten Vorhaben und geplatzten Träumen. Immer wieder gilt es, bittere Verluste zu ertragen. Manchmal ist einfach nur das Wetter unerfreulich oder wir haben schlecht geschlafen.Nicht weniger dunkle Wolken verdüstern den Blick auf die Gesellschaft und die globalen Entwicklungen. Finanzielle und wirtschaftliche Krisen bewegen die Gemüter und verunsichern viele Menschen weltweit. Arbeitslosigkeit, Armut und Unterernährung sind nach wie vor Massenphänomene, vor allem in der Dritten Welt. Die Verschmutzung der Umwelt erreicht nahezu jeden Winkel des Globus. Bewaffnete Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen in vielen Teilen der Welt kommen nicht zur Ruhe. Naturkatastrophen sorgen für Verwüstungen und Not. Und nicht zuletzt der Klimawandel als akute wie als Langzeitbedrohung steht für eine Besorgnis erregende Zukunft.Berechtigt uns all das, von guten Tagen zu sprechen? Sind das überzeugende Gründe für die Behauptung: „Jeder Tag ein guter Tag?"
Eine Tatsache scheint mir in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert: Was um uns herum und mit uns geschieht, das ist eine Sache - wie wir damit umgehen eine ganz andere. Machen wir nicht immer wieder die erstaunliche Beobachtung, wie verschieden Menschen in „derselben" Situation reagieren? Ich kenne Frauen und Männer mit schweren körperlichen Behinderungen, die ich nie anders als fröhlich und lebensbejahend erlebt habe. Daneben Zeitgenossen, die beim ersten grauen Haar der Depression nahe waren. Vor allem in Asien sind mir immer wieder bitterarme Menschen mit einem unglaublich freudigen Strahlen in den Augen begegnet, während materiell wohl situierte Zeitgenossen hierzulande sich nicht selten voller Frust und Unzufriedenheit durch den Tag quälen.Die Dinge sind also nicht „an sich" gut oder schlecht. Wir sind es, die ihnen jeweils Wert oder Unwert zuschreiben. Wir sind es, die ihnen einen sehr unterschiedlichen Einfluss auf uns gestatten. Wie also lässt sich mit belastenden Situationen umgehen? Damit aus einem vermeintlich schlechten Tag ein guter wird! Damit im Idealfall aus jedem Tag ein guter Tag wird!Meine erste Empfehlung lautet: die Blickrichtung zu ändern und nicht länger mit der beliebten Grauschleier-Brille in die Welt zu schauen! Und der zweite Rat: gewohnte Reaktionsmuster aufzugeben und bei sich abzeichnenden Eintrübungen nicht automatisch auf Abwehr zu schalten!
So hilft es schon, wenn wir uns klar machen, dass Klagen und Räsonnieren die Situation nicht verbessern. Das Gegenteil ist der Fall, wenn unser Geist immer weiter die einmal ins Visier genommenen Negativitäten umkreist und sie dadurch nur noch vermehrt. Wir haben eine Wunde und bohren mit dem Finger genüsslich darin herum. Warum eigentlich?Wie wäre es weiter, sich eine ebenso universelle wie unumstößliche Tatsache vor Augen zu führen: „Auch das wird vorübergehen." Alle Dinge sind wandelbar, nicht nur das Angenehme hört irgendwann einmal auf, ganz sicher verabschiedet sich auch das Schmerzliche. Es ist die unterschwellig rumorende Befürchtung „Das bleibt jetzt so", die uns zusätzlich irritiert und die Schatten eines Unglücks noch länger aussehen lässt. Geduld ist gefragt: Alle Gewitterwolken verziehen sich früher oder später, und der Himmel strahlt wieder tief blau.
„Es könnte alles noch viel schlimmer sein!" Auch dieser Stoßseufzer hat eine erleichternde Wirkung. Tatsächlich sind wir oft von den eigenen - und meist gar nicht so dramatischen - Missgeschicken geblendet. Darüber übersehen wir gerne, welche großen menschlichen Tragödien sich um uns herum abspielen. Ein versalzenes Essen verdirbt uns die Laune, den ständig bohrenden Hunger anderswo sehen wir nicht. Wer die Nöte des anderen sieht, verkleinert die eigenen Sorgen wie von selbst.Meine nächste Überlegung: Warum ergreifen wir ein Missgeschick nicht als Chance, um an ihm zu wachsen? Schmerzliche Lebenssituationen sind in gewisser Hinsicht nichts anderes als Aufträge. Sie sind Erinnerungen an unerledigte Aufgaben. Und was wir jetzt nicht annehmen, kommt mit Sicherheit bei der nächsten Gelegenheit wieder. So wie eine unbezahlte Rechnung erneut im Briefkasten landet, oft sogar mit zusätzlichen Mahngebühren.Ein zweifellos lohnender Versuch ist es auch, unsere Aufmerksamkeit bewusst auf die guten Seiten des Lebens zu richten. Wir müssen nicht das Unangenehme und Mangelhafte einer Situation mit allen Einzelheiten in Augenschein nehmen. Sicher können wir bejammern, dass uns etwas Bestimmtes fehlt, doch wir können uns genauso über das freuen, was wir besitzen. Den misslichen braunen Fleck auf dem Apfel mit der Lupe zu betrachten ist eine Möglichkeit, die süße Frucht zu genießen eine andere und viel gedeihlichere.
Bezüglich unserer Mitmenschen gilt im Übrigen das gleiche. Es zahlt sich aus, generell ihren positiven Seiten Beachtung zu schenken und nicht dem, was uns bei ihnen im Moment gegen den Strich geht. Außerdem: Habe ich denn von Frau X oder Herrn Y nicht auch schon Gutes und Liebes erfahren? Und womit sie mir vielleicht heute zugesetzt haben, bin ich ihnen damit bei anderer Gelegenheit nicht auch schon auf die Nerven gegangen? Oder werde es unter Umständen morgen tun?All das reicht noch nicht? Nun, der Buddha hat weitere Weisheitspfeile in seinem Köcher, mit denen sich unsere gut gepanzerte Ignoranz vielleicht doch noch treffen lässt. So rät er beispielsweise, sich zu erinnern, wo denn unsere erfreulichen und unerfreulichen Erlebnisse letztlich ihren Ausgang nehmen. Sie sind nämlich kein Zufallsprodukt, nicht das Ergebnis eines blinden Schicksals. Es ist das eigene einstige Tun und Lassen, das in ihnen wiederkehrt. Wir fahren heute die Ernte dessen ein, was wir mit Kopf, Hand und Zunge früher gesät haben. Natürlich kann es nicht allein um einen geschickteren Umgang mit potenziell betrüblichen Erfahrungen gehen. Das gleicht der Möglichkeit, sich Schuhe anzuziehen, um einigermaßen schmerzfrei auf einem vor uns liegenden dornigen Weg zu gehen. Doch kann man weitaus mehr tun: nämlich jetzt Samen des Guten zu säen, damit wir uns künftig mehr auf schönen Blumenwiesen statt auf staubigen Schotterstraßen bewegen. Wir haben es in der Hand, dass uns mehr erfreuliche Stunden und gute Tage bevorstehen. Wenn unser Inneres heller wird, so der Buddha, wird am Ende auch die Welt sonniger, jeder Tag angenehmer.
Gute Gründe also, den buddhistischen Übungsweg mit seinen drei Etappen zu beschreiten. Zu ihm gehören ethische Kompetenz, meditative Praxis und ein klarer Blick für die Realität. Und jeder Tag ist ein guter Tag, an dem wir uns hierin vervollkommnen.Ich möchte mit dem Stichwort der moralischen Integrität beginnen, denn sie ist die Basis jeder heilsamen Entwicklung.Ein guter Tag wäre für mich, würde sich mein persönliches Verhalten noch konsequenter an ethischen Werten orientieren. Konkreter: würde ich in meinem Alltag andere Wesen weniger verletzen und sie stattdessen mehr fördern und unterstützen; wäre ich großmütiger und freigebiger meinen Mitmenschen gegenüber; könnte ich in meiner Ehe rücksichtsvoller und zuvorkommender sein; könnte ich beim Reden noch genauer auf die Wahrheit achten.
Unsere Gesellschaft ist vorrangig darauf aus, die äußere Welt zu gestalten und die materiellen Lebensumstände zu verbessern. Das Interesse und die Fähigkeit, die eigenen seelisch-geistigen Qualitäten zu heben, sind demgegenüber vergleichsweise gering. In einer Welt des Konsums und des Konsumismus ist innerer Reichtum kaum mehr gefragt. Das zeigt die Wichtigkeit der meditativen Praxis, deren Aufgabe es ist, den Geist in Harmonie zu bringen, seine verborgenen Potenziale zu entfalten und die inneren Quellen des Glücks zu entdecken.Ein guter Tag wäre für mich, könnte ich in dieser Welt des Lärms und der Hast häufiger zu innerer Stille finden; könnte ich in dieser Welt der Vielfalt und der Komplexität mein Leben einfacher und schlichter gestalten; könnte ich in dieser Welt der Zerstreuung und der Ablenkung mehr als sonst zu Ruhe und Sammlung kommen; könnte ich in dieser Welt der Konflikte und der Gewalt zunehmend Ausgeglichenheit und innerem Frieden den gebührenden Raum geben; könnte ich in einer Welt der Oberflächlichkeit das genaue Hinschauen und tiefere Erkennen erfahren.Das dritte Übungsfeld der Buddhistinnen und Buddhisten heißt Erkenntnis oder Weisheit. Gemeint ist die Fähigkeit zu einer unverzerrten Sicht der Lebenswirklichkeit. Zu oft leben wir von ungeprüften Theorien und persönlichen Meinungen, zu selten von fundierten Kenntnissen und tiefen Einsichten. Unsere Zeit legt Wert auf die Schulung des Intellekts und die Anhäufung von profanem Faktenwissen. Die Gesetze der Physik und die des Marktes werden analysiert und alltagstauglich verwertet, die existenziellen Gesetze, die unsere Geschicke viel stärker regieren, scheinen einer näheren Untersuchung nicht wert.
Ein guter Tag wäre für mich ein Tag, an dem ich Schritte gehe, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht verfärbt durch meine vielen Vorlieben und Abneigungen; Schritte, um mehr das Ganze zu begreifen statt nur zahllose Detailinformationen anzuhäufen; Schritte, um mehr verborgene Zusammenhänge zu durchschauen als nur ungezählte separierte Einzelaspekte zu betrachten; Schritte, die das Wichtige vom Unwichtigen, das Tiefgründige vom Oberflächlichen und das Heilsame vom Unheilsamen sondern.Übungsmöglichkeiten gibt es also zur Genüge. Nur, wir müssen sie ernst nehmen und mit Geduld und Beharrlichkeit beherzigen.
Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2011; nach einem Vortrag im NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 9.1.2011; 7.15 bis 07.30 Uhr; gelesen von Kornelia Paltins.