von Alfred Weil
Der Buddhismus sollte, so Alfred Weil, am besten von seinen eigenen Voraussetzungen, seinen besonderen Inhalten, Herangehensweisen und Ausdrucksformen her verstanden werden. Gelehrt hat der Buddha keine Religion, sondern: Dhamma/Dharma.
Wir kommen in unserer Lebenswirklichkeit nur zurecht, wenn wir die Vielfalt unserer Erfahrungen ordnen. Dafür kleben wir den Dingen gewissermaßen ein Etikett auf, wir geben ihnen Namen. Gegebenenfalls fügen wir noch nähere Beschreibungen hinzu und bringen all das in eine brauchbare Systematik. So können wir die zahllosen materiellen und geistigen Erscheinungen identifizieren, uns später an sie erinnern, uns über sie austauschen und sie praktisch handhaben.
Doch was auf der einen Seite für unsere Orientierung unumgänglich ist, wird auf der anderen zu einem oft kaum überwindbaren Hindernis. Wir gewöhnen uns nämlich schnell an die ordnenden Kategorien unseres Geistes und die von ihm benutzten Begriffe. Und bald nehmen wir die Wirklichkeit gar nicht mehr wahr, wie sie tatsächlich ist, sondern aktuelle Erfahrungen werden unbemerkt unserem eingespielten Schema angepasst. Was fremd erscheint, blenden wir nicht selten ganz aus oder interpretieren es so, dass eine eventuelle Unsicherheit wieder verschwindet. Und das bringt uns zu der Frage nach Buddhismus und Religion.
Wie die Generationen vor uns sind wir mit zwei hauptsächlichen Erklärungsmustern für die erlebte Realität aufgewachsen: mit einem wissenschaftlichen und einem religiösen. Was Religion angeht, war in Europa und Deutschland das Christentum über Jahrhunderte so dominierend, dass es bis heute unsere Sichtweisen prägt, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. In sie lassen sich das Judentum, das bei uns ebenfalls eine lange Tradition besitzt, und der Islam, der erst in jüngster Zeit deutlicher sichtbar ist, leicht einordnen. Beide können wir problemlos ebenfalls als „Religionen" ausmachen.
Nun hat sich die spirituelle Landschaft in den vergangenen Jahrzehnten gründlich verändert. Sie ist bunter geworden, und das Übergewicht des Christentums relativiert sich erkennbar. Viele Weltanschauungen und religiöse Traditionen sind hinzugekommen, auch, was wir heute Buddhismus nennen. Und da kommt unser Geist wieder in Spiel, der dieses vergleichsweise neue Phänomen möglichst widerspruchsfrei in seinem vorhandenen Datenbestand unterbringen will.
Zunächst zieht er das Register „Religion", denn der Buddhismus lässt sich sicher nicht bei den bekannten (Natur-) Wissenschaften einreihen. Da gibt es nichts Materielles zu untersuchen, nichts zu messen, zu wiegen oder zu berechnen. Hier geht es nicht um die Beobachtung oder Erklärung von Naturphänomenen oder darum, deren Gesetzmäßigkeiten etwa für die Technik, den Naturschutz oder für medizinische Zwecke zu nutzen.
Der Buddhismus behandelt vielmehr ethische Fragen und plädiert für bestimmte Werte und Verhaltensweisen. Es geht ihm um gemeinschaftliche spirituelle Praxis, oft verbunden mit unterschiedlichen Ritualen. Er spricht von innerem Wachstum und geistigem Reifen. Er thematisiert Geborenwerden und Sterben, Fortexistenz und Wiedergeburt, Diesseits und Jenseits. Ihm sind Fragen nach Glück und Leid sowie die Möglichkeiten der Selbstüberwindung und der Befreiung wichtig. Überhaupt scheint es dem Buddhismus oft um etwas zu gehen, was jenseits des unmittelbaren Verständnisses des Menschen und seiner sinnlichen Erfahrung liegt. Er ist also eine Religion - im Sinne einer Rückbindung (lat. re-ligio) an eine andere, höhere, beglückendere und befreiende Wirklichkeit!
Oder doch keine Religion? Im Christentum, Judentum und Islam ist Religion unverbrüchlich mit dem Glauben an Gott verbunden. Er ist es, der - ewig, vollkommen und allwissend - die Welt und uns geschaffen hat. Es gilt ihm dankbar zu sein und ihn zu ehren, ihn anzubeten, ja gegebenenfalls auch zu fürchten. Er gebietet, was zu tun und was zu lassen ist. Er bestraft und belohnt, verdammt und erlöst. Aber von einem solchen Gott als dem Schöpfer und dem Herrn der Welt kann im Buddhismus nicht die Rede sein. Lehrt nicht der Erwachte, dass die Existenz der Wesen und ihr Erleben die Frucht karmischer Bedingungen sind? Dass alles - Belebtes wie Unbelebtes - dem bedingten Entstehen unterliegt und ausnahmslos wandelbar und unbeständig ist? Und dass jeder den Weg der Befreiung selbst gehen muss, auch wenn er dabei noch so wertvolle Hilfe und Unterstützung bekommt?
Noch etwas spricht gegen die These, dass der Buddhismus eine Religion im üblichen Sinn ist: sein betonter Erfahrungsbezug. Folgt man dem Anspruch des Buddha, handelt es sich bei seinen Lehren nicht um etwas Erdachtes oder Spekulatives, sondern um das Ergebnis seiner eigenen umfassenden Erfahrungen. Immer wieder bekräftigt er, ausschließlich über das zu reden, was er selbst mit der Kraft seines erwachten Geistes und klarer Beobachtung unzweideutig festgestellt hat.
Damit eng verbunden ist seine Einladung an seine Schülerinnen und Schüler, das Gehörte selbst nachzuvollziehen. „Komm und sieh", ermutigte er alle, die das nötige Maß an Vertrauen hinsichtlich des Neuen und Ungewohnten seiner Darlegungen aufbringen konnten. Wer sich auf das Experiment einlässt, so sein Versprechen, wird nach und nach in seiner eigenen Erfahrung bestätigt sehen, was er zuvor lediglich vertrauensvoll zu Kenntnis genommen hat.
Realitätsbezug, genaue Untersuchung, Nachprüfbarkeit und Vereinbarkeit mit der Vernunft gehören zu den Grundprinzipien des Buddhismus. Und das beinhaltet durchaus einen wissenschaftlichen Anspruch, wenngleich die Gegenstände dieses Wissens und die Wege dahin andere sind als die der Naturwissenschaften. Ist der Buddhismus also doch eher eine Wissenschaft?
Ich sagte schon, dass unser Geist die Puzzleteile der Erfahrung zu einem umfassenden und widerspruchsfreien Gesamtbild zusammenfügen möchte. Hinsichtlich unserer Frage will das offensichtlich nicht so einfach gelingen, nicht nur heute. Das zeigt eine interessante Antwort, die Anagarika Govinda, einer der großen Pioniere des deutschen Buddhismus, vor vielen Jahrzehnten für sich gefunden hat: „Als Erlebnis und Weg der praktischen Verwirklichung ist der Buddhismus eine Religion; als gedankliche Formulierung dieses Erlebens ist er Philosophie; als Resultat systematischer Selbstbeobachtung ist er Psychologie; und aus diesem allem ergibt sich eine Norm des Verhaltens, die wir innerlich Ethik, von außen gesehen als Moral bezeichnen."1) Ganz pragmatisch umgeht Govinda die Schwierigkeit, dass keine der gewohnten Schachteln unseres Intellektes den Buddhismus aufnehmen kann, ohne dass etwas zu Schaden kommt. Ersatzweise benutzt er gleich mehrere Schubladen, um die gewünschte Ordnung zu schaffen.
Warum aber machen wir es uns so schwer? Der Buddha hat doch selbst gesagt, was er lehrt: den Dhamma. Zugegeben, dieses Pali-Wort (Skr. dharma) allein löst das Rätsel noch nicht, aber es gibt die Richtung vor, in der wir uns umsehen müssen. Wir sind aufgefordert, den Buddhismus gleichsam „von innen" heraus zu verstehen, ihn von seinen eigenen Voraussetzungen her, mit seinen besonderen Inhalten, Herangehensweisen und Ausdruckformen zu begreifen. Er lässt sich nicht „von außen", mit fremden und unangemessenen Begriffen und Vorstellungen fassen, die ihn nur verbiegen oder verengen.
Das indische Wort Dhamma hat einen sehr weiten Bedeutungsumfang. Für unsere Zwecke genügt es, drei Aspekte zu unterscheiden.Zunächst können wir den Dhamma als die vermittelten Lehren des Buddha, als die von ihm überlieferten Worte verstehen. Dhamma meint die verschiedenen Themen, die der Erwachte behandelt, die Erklärungen, die er gegeben, und die Handlungsempfehlungen, die er den Menschen ans Herz gelegt hat. Wenn man so will, geht es um die Gesamtheit der buddhistischen Anschauungen und formulierten Sichtweisen. Fünfundvierzig Jahre hat Buddha Sakyamuni seine Erkenntnisse mit anderen geteilt und in ungezählten Gesprächen und Vorträgen im Bewusstsein seiner Zeitgenossen verankert. Bis heute sind solche Belehrungen erhalten. Zunächst mündlich überliefert, wurden sie etwa 500 Jahre nach dem Ableben des Buddha niederschrieben, geordnet und in einem gewissen Umfang auch bearbeitet. Der Palikanon beispielsweise - die älteste der heute noch zugänglichen großen Sammlungen - enthält mehrere Tausend von sehr kurzen bis ausgesprochen langen Texten. Die wichtigsten von ihnen wurden längst in viele westliche Sprachen übersetzt, auch mehrfach ins Deutsche.
Fragen wir nach den Inhalten dieser Lehren, sind wir schon bei der zweiten Bedeutung von Dhamma: der vorgefundenen Realität des Daseins. Denn was der Buddha in Worte gefasst und weitergegeben hat, sind keine persönlichen Lieblingsideen oder Ergebnisse zweifelhafter Gedankenakrobatik. Der Erwachte stützte sich ganz auf das Erforschen und das Verstehen der existenziellen Gegebenheiten. Er beschrieb, was er zuvor von der Wirklichkeit abgelesen hatte.Weil das „Bedingte Entstehen" etwas Reales ist, konnte er es ergründen und erklären. Weil Wiedergeburt und Fortexistenz im Erleben der Wesen vorkommen, konnte er sie erforschen und verstehbar machen. Weil ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung bzw. von Handeln und Erleben besteht, konnte er die Karmalehre formulieren. Die Realität selbst wird so zum Maßstab, die unabgelenkte Beobachtung und kritische Untersuchung aller Phänomene sind bestimmend. Dogmen und Hypothesen, bloßes Wunschdenken und wirklichkeitsfremde Fantasien haben hier nichts verloren.
Der Dhamma als die erkannte und mitgeteilte Wahrheit hat natürlich viele Ebenen und Facetten. Sein Kern beinhaltet vier Grundaussagen: die Wahrheit von der Unzulänglichkeit aller Erscheinungen, die von deren Ursachen, die von der Freiheit des Nirvana und die von dem praktischen Weg, der dahin führt.
Wer die Gesetze des Daseins kennt und für sich und andere nutzbar machen will, richtet sich nach ihnen. Wissen wird zur Richtschnur für sein Handeln im Alltag und für seine spirituelle Praxis. Und damit klingt eine dritte Bedeutungsebene von Dhamma an: seine praktische Komponente. Wenn wir die Richtigkeit des Dhamma erkannt haben, bestimmt er mehr und mehr unser Tun und Lassen. Aus Überzeugung nehmen wir die ethischen Verpflichtungen auf uns, üben uns in der Meditation und vertiefen unser Verständnis.
Der Buddha-Dhamma ist also etwas Umfassendes, das sich nicht in das Korsett tradierter Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten zwängen lässt, sondern es vielmehr sprengt. Für ihn hat die im Zuge der Aufklärung entstandene ebenso strikte wie fatale Trennung zwischen „Religion" und „Wissenschaft" keine Bedeutung. Was in unserer Gesellschaft und in der heutigen Zeit oft als unvereinbar angesehen wird, nämlich „Vertrauen" (in noch Unbekanntes) und „Wissen" (als selbst Erfahrenes), bildet im Dhamma eine unlösbare Einheit. Geistige Offenheit und die intuitive Gewissheit, dass es neben den Alltagsbanalitäten etwas Höheres gibt, bringt uns auf den Weg. Und die auf ihm neu gewonnenen Einsichten stärken wiederum die Zuversicht, dass sich das Weitergehen lohnt. Die Erfahrungsbezogenheit und Rationalität der buddhistischen Lehren rücken sie in die Nähe der Wissenschaft. Ihre Wertbezogenheit, persönliche Bedeutung und praktische Orientierung machen ihre religiöse Dimension aus. Jedenfalls nach den üblichen Denkmustern.
Und zu letzteren gehört freilich auch der Ausdruck „Buddhismus". Auch wenn der wohl kaum mehr aus unserem Sprachgebrauch zu tilgen ist: er trifft ebenfalls nicht den Kern der Sache. Der Buddha war kein „Buddhist" und hat auch keinen „Buddhismus" gelehrt (gar keinen Ismus), sondern eben den Dhamma.
1) Lama Anagarika Govinda: Die psychologische Haltung der frühbuddhistischen Philosophie, Wien 1980 (Octopus), S. 1
Buddhismus aktuell 3/2014