Wir sterben nicht nur einmal
Die indische Stadt Rajagaha war vorzeiten die Heimat eines betagten Brahmanen namens Upasalha. Eine Geschichte erzählt, dass jener Brahmane ein ganz betontes Interesse hatte, nach seinem Tod auf keinen Fall dort verbrannt zu werden, wo zuvor schon jemand aus einer niederen Kaste verbrannt worden war. Deshalb bittet er seinen Sohn: „Sorge dafür, dass ich an einem reinen Ort den Flammen übergeben werde." Doch der Sohn ist ein wenig ratlos, er weiß von keinem solchen Ort.
Um sicher zu gehen und doch einen geeigneten Platz für die traditionellen Zeremonien zu finden, machen sich Vater und Sohn eines Tages auf den Weg. Sie wandern zu dem nahegelegenen Geiergipfel, einem kleinen Berg am Ausgang des Tales. Als sie oben angelangt sind und sich eine Weile umsehen konnten, wird der alte Brahmane glücklicherweise fündig: „Hier ist die richtige Stelle, hier wurde noch kein niedrig Geborener verbrannt", strahlt er voller innerer Überzeugung. „Dorthin lass mich nach meinem Ableben bringen."
Zufrieden treten beide den Rückweg an, aber offensichtlich sind sie sich doch nicht ganz sicher. Denn als ihnen bei ihrem Abstieg ein Mann begegnet, bitten sie ihn um seine Meinung, obwohl sie ihn gar nicht kennen. „Ist der Ort für unsere Zwecke wirklich geeignet?" dringen sie in ihn. Gemeinsam mit dem Fremden gehen sie die kurze Strecke noch einmal zurück und nehmen ihre vorherige Wahl zwischen den drei Anhöhen ein zweites Mal in Augenschein. Was Vater und Sohn aber zu hören bekommen, verblüfft sie vollends. „Eben da wurden schon unzählig viele Leichen dem Feuer überantwortet. Und allein du, Brahmane, der du jetzt Upasalha heißt und in Rajagaha lebst, hast genau dort schon in vierzehntausend vorangegangenen Existenzen deinen Leib abgelegt. Nirgendwo auf der Welt wirst du einen einzigen Ort finden, der nicht schon oft und oft als Verbrennungsstätte gedient hat. Nirgendwo einen Ort, der nicht mit den Gebeinen der Menschen übersät ist."
Die Geschichte verrät, dass der rätselhafte Fremde der Bodhisattva, der künftige Buddha, gewesen ist und er mit seinem universellen Blick die wirklichen Zusammenhänge überschauen konnte. In der vorbuddhistischen brahmanischen Religion war die Tatsache von Fortexistenz und Wiedergeburt wohl bekannt, und sicher glaubte auch Upasalha nicht, dass er bald das letzte Mal bestattet werden würde. Und dennoch war er sich offensichtlich nicht der vollen Tragweite bewusst, als er über sein Sterben und den Tod an sich nachdachte. Um wie viel schwerer fällt es uns „modernen" und „aufgeklärten" Menschen, uns ein realistisches Bild zu machen. Wir sind so fixiert auf die wenigen Jahrzehnte, die wir für unsere ganze Lebenszeit halten, und so bemüht, sie mit allen möglichen Dingen und Aktivitäten zu füllen, dass wir an ein Davor und Danach kaum je einen Gedanken verschwenden. Ja, die meisten glauben nicht einmal daran, dass sich das Leben nach dem Zerfall dieses Körpers fortsetzt. Unter Umständen viele, viele Male. Und wie oft jedes Lebewesen die Erfahrung von Geborenwerden, Altern und Sterben schon gemacht hat, übersteigt schier unsere Vorstellungskraft. Mit Zahlen operieren zu wollen, und seien sie noch so groß, bleibt sinnlos, weil sich mit ihnen doch keine Anschauung verbindet.
In der Geschichte von Upasalha klingt dieser Punkt an, und er wird sinnlich fassbar: Jeder Quadratzentimeter auf dieser Erde ist gleichsam mit Schädeln übersät. Wohin wir unseren Fuß setzen, wir treten auf Gebeine und gehen über Schädel. Nicht nur bildlich gesprochen, sondern in einem gewissen Sinn ganz real, weil es kein Fitzelchen Materie gibt, das im Laufe des Daseinskreislaufes nicht schon zu einem menschlichen oder tierischen Körper wurde und irgendwann danach auch wieder von belebter zu toter Materie. Diese allgegenwärtige materielle Präsenz des Todes vor unseren Füssen und vor unseren Augen ist sinnfälliger Beleg dafür, in welcher (zeitlichen) Dimension sich Geborenwerden, Altern und Sterben und wieder Geborenwerden, Altern und Sterben abspielt. Nicht abstrakt und im Allgemeinen für die Menschheit oder die Tiere als Gattung, sondern konkret und bezogen auf jeden von uns. (Jataka 166)
Eindrucksvoll sind auch die weiteren Bilder und Gleichnisse, die der Buddha parat hat, um diese Tatsache begreiflich zu machen. Wenigstens ansatzweise. Versuchen wir uns einmal bildlich vorzustellen oder morgen daran zu denken, wenn wir wieder in der Stadt unterwegs sind: Es ist völlig unmöglich, einem einzigen Lebewesen zu begegnen, das in diesen unausdenkbaren vergangenen Zeiten nicht schon einmal mit uns in engsten verwandtschaftlichen Beziehungen gestanden hätte. Wer auch immer uns im Laufe unseres Lebens irgendwie und irgendwo begegnet: Er oder sie war schon einmal unser Vater, unsere Mutter oder Bruder oder Schwester. Er oder sie war schon unser Sohn oder Tochter und dieselben Rollen haben wir ihnen allen gegenüber ebenfalls schon gespielt. (Samyutta-Nikaya 15,14-19) Mit anderen Worten, in der Bahn sitzen nicht Fremde, sondern tatsächlich Sohn und Tochter neben mir. Im Kaufhaus bedienen mich Mutter und Vater, an der Kasse gebe ich meiner Schwester das Geld in die Hand.
Noch ein Aha-Erlebnis ist möglich, wenn wir das Schicksal anderer Menschen zur Kenntnis nehmen und es bewusst in Bezug auf uns selbst setzen. Sei deren Los gut oder schlecht, erstrebenswert oder Mitleid erregend, stets gilt: ‚Auch ich!' Geht es jemandem elend - körperlich, seelisch, geistig, materiell oder wie immer sonst - sicher ist, das habe ich selbst schon genauso durchlitten. Sonnt sich jemand gerade im Glück, erfreut er sich bester Gesundheit, fühlt sich rundherum wohl und kennt keinerlei finanzielle Probleme - die Schlussfolgerung ist auch in diesem Fall zutreffend: Auch ich habe die Sonnenseite des Leben wieder und wieder genossen, sie aber genauso verloren und später unter trostlosen Verhältnissen gelitten. In einem unendlichen fortgesetzten Wandel der Dinge und einer nicht endenden Daseinswanderung. Äonenlang. (Samyutta Nikaya 15,11-12)
Wie lange, wird der Buddha gefragt, dauert wohl ein Weltzeitalter? Unvorstellbar lang, so die Antwort. Es ist nicht leicht zu fassen und in Worte zu kleiden. Aussagen wie ‚so viele Jahre umfasst es oder so viele hundert Jahre oder so viele tausend Jahre oder so viele hunderttausend Jahre' kommen nicht im entferntesten an den tatsächlichen Sachverhalt heran. Allenfalls in einer Metapher kommt man ihr näher. Stellt euch ein gewaltiges Felsmassiv vor, das eine Meile lang, eine Meile breit und eine hoch ist, ganz und gar solide und ohne Hohlräume oder Löcher. Dort kommt nun alle hundert Jahre ein Mann vorbei, der diesen mächtigen Block einmal mit einem feinen Seidentuch streift - schneller ist das Gestein auf diese Weise abgerieben und völlig verschwunden als ein Weltzeitalter vorüber gegangen. So lange dauert ein Äon. Und von diesen habt ihr alle schon viele hunderttausend erlebt und durchlebt. (Samyutta Nikaya 15,5)
In dieselbe Richtung zielt die Frage, die einem anderen Brahmanen auf dem Herzen liegt und die er dem Buddha vorträgt: Wie viele solcher Weltzeitalter sind schon vergangen? Ihm gibt der Erwachte ebenfalls einen Anhalt. Schau dir den gewaltigen Ganges an, der Indien durchzieht und von vielen verehrt wird. Er hat eine beeindruckende Länge, und die Menge Sand entlang seiner Ufer von seiner Quelle bis zu dem Ort, an dem er sich ins Meer ergießt, ist kaum zu ermessen. Und doch sind bereits mehr Weltzeitalter verstrichen, als es Sandkörner auf dieser Strecke gibt. (Samyutta Nikaya 15,8) Und die Frage nach dem Ursprung des Ganzen, die einem sofort kommt, sie macht gar keinen Sinn. Unbekannten Anfangs ist der Daseinskreislauf der Wesen, die in Unwissenheit gefangen und von Verlangen getrieben sind, stellt der Buddha nüchtern fest. (Samyutta Nikaya 15,1 ff.) Mit den Mitteln unseres Geistes ist ein fefinitiver Beginn nicht zu finden.
Leider schreibt Samsara, dieses wirbelnde Rad von Geburt, Alter und Tod, keine wirkliche Erfolgsstory, sondern eine Geschichte von dukkha. Sonst könnten wir die Sache einfach auf sich beruhen lassen, uns sorglos des Lebens freuen und über seine ständige Fortsetzung glücklich sein. Ein realistischer Blick sagt indessen, dass dieser lange Lauf durch die zahllosen Lebensstationen am Ende einer jeden Episode nichts anderes bedeutete, als wieder einmal das Leichenfeld zu vergrößern. Er sagt, dass die Gesamtbilanz dieser Zeit in roten Zahlen geschrieben werden muss. Zuviel an Schmerz und Leid müssen da aufgelistet werden, die immer wieder erlebt und erlitten wurden, als dass ein anderes Ergebnis möglich wäre. (Samyutta Nikaya 15,1 ff.) Mehr Tränen, versichert der Buddha, wurden schon vergossen, weil wir den Tod von Mutter und Vater zu beklagen hatten, als sich Wasser in den vier Weltmeeren befindet. Mehr Tränen, weil wir uns getrennt von dem sahen, was uns lieb und wert, und vereint mit dem, was uns verhasst und widerwärtig war. (Samyutta Nikaya 15,3) Und es ist weitaus mehr Blut geflossen, während man uns als Diebe und Mörder enthauptete oder als Büffel, Schafe oder Schweine schlachtete, als alle Ozean zusammen zu fassen vermögen. (Samyutta Nikaya 15,13) Tatsächlich kann da die Frage eigentlich nur lauten: Ist das nicht Grund und Ursache genug, sich von all dem abzuwenden? Sich von all dem freizumachen und all das endlich hinter sich zu lassen? (Samyutta Nikaya 15,1)
Das hört sich ernüchternd an? Ja, und das soll es auch. Aber es braucht nicht frustrierend und darf nicht pessimistisch klingen, und es gibt keinerlei Grund, niedergeschlagen zu sein und die Hoffnung zu verlieren. Ein Problem kennen, ist die erste Voraussetzung dafür, es lösen können. Wenn der Buddha mit einem solchen Nachdruck über Tod und Sterben spricht, dann nur, um auf die außerordentliche Dringlichkeit des Themas aufmerksam zu machen und zu zeigen, wie grundsätzlich es ist. Sich auf seinen Tod angemessen vorzubereiten oder anderen zu helfen und sie bei ihrem Sterben zu begleiten: Das ist wichtig und richtig für die gegenwärtige Lebensepisode. Aber all das reicht nicht aus, weil jeder früher oder später wieder in dieselbe Situation kommt. Es ist deshalb viel besser zur Kenntnis nehmen, was der Buddha nach seinem Erwachen als erstes den Menschen zugerufen hat, und die praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen: Hört zu, das Todlose ist gefunden. (Majjhima Nikaya 26) Es gibt also eine Alternative, es gibt einen Ausweg aus dem Wechselspiel zwischen Geburt und Tod. Samsara hat keinen für uns erkennbaren Anfang, aber ein Ende ist absehbar. Wenn wir den entdeckten Weg ins Freie (nach) gehen, werden Geborenwerden, Altern und Sterben für immer aufhören.