Zeitschriftenartikel

Die Mönche und der Fischadler

Eine buddhistisch inspirierte Geschichte erzählt uns von drei Mönchen, die auf ihrem spirituellen Weg schon weit gekommen waren, ihn aber noch nicht vollendet hatten.

Alle drei hatten die Gewohnheit, morgens zum Ufer des nahe gelegenen Flusses zu gehen, um in dem klaren und kühlen Wasser zu baden. Da sie magische Fähigkeiten besaßen, hängten sie ihre Roben einfach in die Luft, nachdem sie sich entkleidet hatten. Nach dem Bad nahmen sie ihre Gewänder wie selbstverständlich wieder an sich.

Eines Tages geschah etwas für sie Außergewöhnliches. Die drei Männer wuschen sich gerade, als ein Fischadler nahe an ihnen vorüber flog und sich vor ihren Augen in die Fluten stürzte. Nach wenigen Momenten tauchte der Vogel wieder auf - mit einem zappelnden Fisch in seinen Krallen. In Windeseile flog das Tier zu seinem nahe gelegenen Nest und machte sich daran, die Beute zu fressen.

Die Mönche sahen einander einen Augenblick fassungslos an, und wie aus der Pistole geschossen sagte einer von ihnen entrüstet und mit grimmiger Miene: „Der böse Adler!" Kaum waren diese Worte über die Lippen des Mannes gekommen, da fiel sein Gewand zu Boden.

Auch den zweiten Mönch berührte die eben erlebte Szene tief und veranlasste ihn ebenso spontan zu dem Ausruf: „Der arme Fisch!" Aber auch seine Robe hielt sich nicht länger in der Luft und glitt alsbald in den Staub.

Nun war es an dem dritten Mönch, das denkwürdige Ereignis zu kommentieren, was er alsbald auch tat. „So geht es zu im Leben", begann er. „Wer stark ist, setzt seine Interessen auf Kosten des Schwächeren durch. Selbst wenn es dessen Leben kostet. Aber: Die Sieger von heute werden morgen die Verlierer sein und dann unter der Willkür der Mächtigen leiden. Solange die Wesen gegenüber den Tatsachen des Lebens blind sind und nur Habenwollen und Seinwollen kennen, werden sie dem Daseinskreislauf nicht entrinnen. Stets gehen sie aufs Neue Geborenwerden, Altern und Sterben entgegen. Ihr Leiden wird kein Ende nehmen. Mögen deshalb alle Wesen Begehren und Unwissenheit überwinden und für immer frei von allem Leiden werden!" Und was geschah? Die Robe dieses Mönches bewegte sich auch nicht einen Millimeter.

Drei Menschen erleben dieselbe Szene, und dennoch erleben sie etwas ganz anderes; jedenfalls reagieren sie völlig verschieden. Ein Greifvogel erbeutet einen Fisch und eilt mit ihm davon. Schon meint einer der Zeugen voller Zorn, da sei ein Unrecht geschehen und wendet sich gegen den Täter. Er verurteilt den Aggressor wie dessen Tat und gibt dem deutlich Ausdruck: „Der böse Adler!" Sein Mitbruder hingegen richtet seinen Blick auf das Opfer. Muss er doch mit ansehen, wie ein wehrloses Tier von einem Stärkeren zu Tode gebracht wird, und das lässt ihn nicht kalt. Mitempfinden steigt auf, Bedauern wegen des Leidens eines Mitwesens. „Der arme Fisch!" ist deshalb aus seinem Mund zu hören.

Ich jedenfalls beobachte beide Reaktionsweisen immer wieder auch bei mir selbst. Der Blick in die Zeitung, ein Nachrichtensendung, ein Gespräch sind mögliche Auslöser. Oder die unmittelbare eigene alltägliche Erfahrung.

Es ist ein schöner Sonntagmorgen im Sommer. Meine Frau und ich sitzen auf der Terrasse und lassen uns das Frühstück schmecken. Plötzlich laute und angsterfüllte Töne. Die Nachbarkatze hat gerade eine Maus unter einem Busch aufgestöbert und hält sie mit ihren Pfoten fest. Nur, um sie vor unseren Augen gleich wieder freizulassen und erneut zu fangen. „Böse Katze" und „arme Maus" schießt es mir abwechselnd durch den Kopf. Ablehnung und Ärger auf der einen Seite, Mitgefühl und Anteilnahme auf der anderen.

Diese Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen, und natürlich sind sie nicht auf die Tierwelt beschränkt. Weitaus stärker noch sind wir berührt oder bestürzt, wenn sich „böse" und „arm" auf Menschen und ihr Handeln oder Erdulden beziehen. Aber was ist von den geschilderten Grundmustern zu halten, mit denen wir üblicherweise auf solche Situationen reagieren? Sind sie wirklich angemessen? Vielleicht antwortet der „gesunde Menschenverstand" zustimmend, aber wie lautet eine religiös fundierte, wie eine buddhistische Antwort?

Zunächst: Zorn, Abwehr, Widerwille oder andere trennende Emotionen gelten in allen Religionen als unheilsam. Von Handlungen, die aus Aggressivität oder Böswilligkeit hervorgehen, ganz zu schweigen. Gegenwendung, Feindseligkeit und Antipathie vertiefen nur die Gräben und vermehren leidhafte Erfahrungen - auf beiden Seiten. Das, so der Buddha, ist eine universelle Gesetzmäßigkeit. Das eigene Glück lässt sich nicht auf Streit und Auseinandersetzung, Abneigung oder Hass gründen. Negative Gefühle verdunkeln den eigenen Geist, sie vergiften das Zusammenleben und kehren sich früher oder später gegen uns selbst. Einen Profiteur von Gewalttaten kann es letztlich nicht geben. Der „böse Adler" ist daher weder ein richtiger noch ein hilfreicher Gedanke.

Klingt demgegenüber das Wort „der arme Fisch" nicht weitaus sympathischer? Drückt es doch eine Haltung aus, die wir mit einem hohen ethischen Wert verbinden. Unsere Kultur ist geprägt von dem durchaus berechtigten Appell, „Ichbezogenheit" und „Ichliebe" kleiner zu schreiben und stattdessen Freundlichkeit und Hinwendung zu zeigen. Güte und Liebe offenbaren sich, wenn ich erkenne, dass alle Menschen, ja alle empfindenden Wesen wie ich selbst nur einen Wunsch haben: Schmerz und Unzulänglichkeit zu vermeiden und Glück zu erfahren. Jeder ersehnt Wohl, und aus spiritueller Sicht geht es darum, es gleichermaßen auch allen anderen zu wünschen. „Mögen alle Wesen glücklich sein" lautet daher ein bekannter buddhistischer Segensspruch.

Mitempfinden ist eine Folge dieser Einstellung, und es geht noch weiter als die Haltung des bloßen Wohlwollens. „Der arme Fisch" drückt daher diesen Perspektivwechsel aus. Ich sehe mit einemmal den anderen in einer Notsituation. Ich sehe, wie die momentanen konkreten Umstände seinen Wunsch nach Geborgenheit und Glück zunichte machen. Der Fisch wird aus seinem gewohnten und Sicherheit bietenden Lebensumfeld gerissen. Er hat Todesangst, sein Leben ist unmittelbar bedroht. Einer der Mönche hat genau das im Auge, und sein Mitgefühl kommt zum Ausdruck: „Der arme Fisch", sagt er deshalb.

Und dennoch, auch seine Robe fällt zu Boden. Warum? Was bringt diese Symbolik zum Ausdruck? Ist Mitempfinden die falsche Reaktion? Wäre es besser gewesen, einfach wegzuschauen und den Vogel wie den Fisch sich selbst zu überlassen? Eine Antwort können wir nur finden, wenn wir uns die Reaktion des dritten Mönches genauer ansehen und sie zu verstehen versuchen.

„So geht es zu im Leben", hatte der Dritte im Bunde konstatiert. „Wer stark ist, setzt seine Interessen auf Kosten des Schwächeren durch. Selbst wenn es dessen Leben kostet. Aber: Die Sieger von heute werden morgen die Verlierer sein und dann unter der Willkür der Mächtigen leiden. Solange die Wesen blind sind gegenüber den Tatsachen des Lebens und nur Habenwollen und Seinwollen kennen, werden sie dem Daseinskreislauf nicht entrinnen. Stets gehen sie aufs Neue Geborenwerden, Altern und Sterben entgegen. Ihr Leiden wird kein Ende nehmen. Mögen deshalb alle Wesen Begehren und Unwissenheit überwinden und für immer frei von allem Leiden werden!"

Das ist weder ein Stoßseufzer der hellen Empörung noch einer der blinden Anteilnahme. Der Mönch, der eben gesprochen hat, will keinen einseitigen Akzent setzen. Was er ausspricht, ist nicht in erster Linie emotional gefärbt, sondern beruht auf einer klaren und umfassenden Würdigung der Situation. Seine Sichtweise wendet sich nicht gegen jemanden, und sie greift nicht einseitig Partei für jemanden. Für ihn existiert weder „der böse Adler" noch „der arme Fisch".

Es ist ein Ausdruck buddhistischer Weisheit, das Ganze im Auge zu haben und die wechselseitigen Beziehungen der Dinge zu beachten. Im konkreten Fall bedeutet das: Die Rollenverteilung von Täter und Opfer ist nicht ein für allemal festgeschrieben. Alles ist dem Wandel unterworfen. Wer heute unter Entsetzen gefressen wird, reißt morgen selbst begehrlich den Rachen auf. Wer jetzt einem Mächtigeren unterliegt, wird irgendwann seinerseits zum Unterdrücker und Ausbeuter.

So gesehen können wir die Haltung des dritten Mönchs nachvollziehen. Er schließt niemanden von seinem Mitempfinden aus. Er sieht das Leiden nicht nur des Fisches, sondern auch das des Greifvogels. Beide stehen sie im Kampf ums Überleben. Beide wollen und müssen ihren Lebenshunger stillen. Beide wollen sie Glück und Frieden erleben, und jeder versucht es mit den Mitteln, die ihnen gegenwärtig zur Verfügung stehen. Oft wissen sie nichts Besseres, als ihre Bedürfnisse auf Kosten ihrer Mitwesen zu stillen. Auch der Fisch lebt von kleineren Artgenossen oder Würmern.

Aus dieser Perspektive lässt es sich nicht mehr so schnell urteilen und verurteilen. Die zunächst offensichtlich erscheinenden Unterschiede verschwinden. Fisch und Vogel sind gleichermaßen Gefangene der mächtigen Kräfte, die in ihnen wirken. Das tödliche Karussell von Fressen und Gefressenwerden läuft daher immer weiter. Solange beide Tiere von Nichtwissen beherrscht und von Verlangen getrieben sind, gibt es kein Entkommen, sie setzen ihre Wanderung durch die Existenz fort. Und in der buddhistischen Weltanschauung bedeutet das über zahllose Leben hinweg. Tatsächlich lehrt der Buddha, dass alle empfindenden Wesen seit anfanglosen Zeiten von Leben zu Leben eilen. Geborenwerden, Sterben und Wiedergeborenwerden im endlosen Auf und Ab ist das Los aller Unwissenden.

Die Weisheit des dritten Mönches vermag das zu erfassen, und natürlich begreift sie die menschliche Lebenssituation mit ein. Wir sind Vogel und Fisch, Opfer und Täter. Wir sind Blinde, voller Verlangen und Ablehnung und daher immer wieder dem Leiden unterworfen. Es sei denn, es gelingt uns, den ebenso endlosen wie aussichtslosen Kreislauf des Daseins und seine Antriebskräfte zu durchschauen. Der dritte Mönch in unserer Geschichte zeigt den Ausweg. Den Weg zur endgültigen Freiheit beschreitet, wer Hass, Ablehnung und Gegenwendung in sich nicht länger duldet; wer sich mehr und mehr von der gewohnten Egozentriertheit verabschiedet und universelles Wohlwollen und Mitempfinden entfaltet; wer die Einheit aller Wesen sieht und die Unterscheidung von Ich und Du immer weiter zurücktreten lässt.

Buddhistische Monatsblätter Nr. 1/2011; nach einem Vortrag im NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 11.7.2010; 7.15 bis 07.30 Uhr; gelesen von Ursula Luhn.


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