Eine alte indische Geschichte erzählt, dass der Buddha in einem seiner früheren Leben im Reiche des Königs Brahmadatta als Gazelle geboren wurde. Als er aus dem Mutterschoß kam, leuchtete er wie Gold, seine Augen funkelten, seine Hörner hatten die Farbe von Silber und sein Mund die roter Gewänder. Das prächtige Tier lebte zusammen mit fünfhundert anderen Gazellen in einem großen Wald, und für alle war es der geachtete und verehrte Gazellenkönig Nigrodha. Ganz in der Nähe des Rudels hielt sich noch eine andere fünfhundertköpfige Gazellenherde auf, an deren Spitze der ebenfalls goldglänzende Sakha stand.
König Brahmadatta, nun war geradezu auf die Jagd versessen. An seinem Hof gab es keine Mahlzeit ohne Fleisch. Ohne jede Rücksicht rief er jeden Tag einige seiner Untertanen zusammen, damit sie mit ihm auf die Pirsch gingen. Den Leuten war das jedoch auf die Dauer zu zeitraubend, und sie überlegten: „Lasst uns doch das Wild mit besonders wohlschmeckendem Futter und frischem, klarem Wasser in den königlichen Park locken. Dann verschließen wir das Tor, die Tiere können nicht mehr entkommen, und der König mag sich ihrer nach Lust und Laune bedienen." Bald war der Plan in die Tat umgesetzt, beide Herden gefangen und der Herrscher in seinem Palast über die neue Situation informiert.
Der ging alsbald freudig in seinen Park und erblickte zuallererst die beiden goldfarbenen Gazellen, die er sofort unter seinen besonderen Schutz stellte. Ihnen sollte nichts geschehen. Von nun an erlegte Brahmadatta entweder selbst eines der Tiere oder er beauftragte seinen Koch. Jedes Mal aufs Neue stürzten die Gazellen in Panik davon, wenn sie einen Menschen mit Pfeil und Bogen herankommen sahen, und nicht selten zogen sie sich böse Verletzungen zu. Manche starben sogar bei ihrer wilden Flucht.
Als der Bodhisatta dessen gewahr wurde, rief er Sakha, den Anführer der anderen Herde, zu sich und machte ihm folgenden Vorschlag: „Mein Lieber, wir leben in schlimmen Zeiten, die einigen unserer Schwestern und Brüder das Leben kosten und allen anderen Angst und Schrecken bringen. Wie wäre es, wenn sich jeden Morgen eines von uns freiwillig zum Opfer brächte? Wer das sein wird, mag das Los bestimmen, und abwechselnd soll es eines aus deiner und aus meiner Schar sein. Der Unglückselige begibt sich an einen vereinbarten Ort und übergibt sich dem König." „So werden wir es machen", antwortete Sakha. „Wenn auch viele sterben müssen, können wir auf diese Weise unnötigen Schmerz vermeiden."
Nachdem auch Brahmadatta sein Einverständnis gegeben hatte, verfuhr man so, wie die beiden Gazellenkönige verabredet hatten.
Eines Tages nun traf das Los eine schwangere Gazelle aus der Herde Sakhas. Sie war über die Maßen betrübt und wandte sich traurig an Sakha: „Mein Herr, in meinem Leib wächst ein Junges heran. Wenn ich nun mein Haupt auf den Opferblock lege, werden zwei von uns sterben müssen. Lass doch für dieses Mal das Los an mir vorüber gehen. Ich bitte dich darum, um meines Kindes willen." Sakha aber schüttelte den Kopf: „Ich kann dir nicht helfen. Du weißt, was du zu tun hast, also gehe und erfülle deine Pflicht.
"In ihrer Not ging die werdende Gazellenmutter zu dem Gazellenkönig Nigrodha und klagte auch ihm ihr Leid. Der überlegte nicht lange und erwiderte: „Gehe du zurück in das Gehölz, du sollst frei sein. Ich selbst werde heute dem König als Speise dienen." Woraufhin er sich umgehend an den vereinbarten Ort begab, wo der Koch schon etwas ungeduldig wartete.
Der aber wollte seinen Augen nicht trauen. ‚Hat Brahmadatta dem Gazellenkönig nicht seinen Schutz angeboten? Hat er nicht für dessen Leben gebürgt? Wie kommt es denn, dass jetzt Nigrodha selbst am Opferplatz erscheint?', fragte er sich. Schleunigst machte der verwirrte Koch kehrt und berichtete dem König von dem merkwürdigen Geschehen. Ungläubig und kopfschüttelnd bestieg Brahmadatta seinen Wagen und preschte in den nahe gelegenen Park. Er wollte sich selbst ein Bild machen.
Dort angekommen, sprach er: „Lieber Nigrodha, du weißt, dass ich dir meinen persönlichen Schutz gewährt habe. Du hast den Tod nicht zu fürchten, warum also finde ich dich an dieser Stelle?" Der Bodhisatta sah ihn an und antwortete: „Brahmadatta, heute kam eine trächtige Gazelle zu mir und bat um ihres Jungen willen um Schonung. Sie flehte: ‚Lass das Los für dieses Mal an mir vorüber gehen, sonst wird es auch meine Leibesfrucht treffen.' Ich aber will nicht das Leid des Todes einem andern aufbürden, und das ist der Grund, warum ich hier warte. Ich bin gerne bereit, mein Leben für das ihre und das des Jungen hinzugeben. Tue also, was dir beliebt.
"Der König hielt einen Moment inne und sagte schließlich: „Bester Gazellenkönig, am Königshof, ja in meinem ganzen Reich ist mir noch nie jemand begegnet wie du. Deine Freundlichkeit und dein Mitempfinden haben mich besiegt. Du kannst aufstehen und wieder zu deiner Herde zurückkehren. Dir und jener Muttergazelle gewähre ich die Freiheit."
„Wenn wir beide gerettet sind, was soll dann aber mit unseren Schwestern und Brüdern hier im Park geschehen, oh König?", entgegnete der Bodhisatta. Auch sie wollen leben und nicht sterben. - „Auch den übrigen soll von nun an nichts mehr geschehen, das verspreche ich." - „Und was ist mit all den anderen Gazellen in Wald und Flur?" - „Sie sollen ein Leben frei vor Furcht und ohne Sorge führen", so der König. - „Und die übrigen Vierfüßler, die Vögel in der Luft, die Fische im Wasser? Wie wird es ihnen ergehen?" - „Ganz ebenso, von mir haben sie nichts mehr zu befürchten.
"Auf diese Weise erreichte der Gazellenkönig Nigrodha, dass am Königshof nie mehr gejagt und alles Leben geschont wurde. Mehr noch. Tief beeindruckt von dem Mitgefühl des außergewöhnlichen Tieres wurde Brahmadatta auch für die Weisheit aus Nigrodhas Mund empfänglich. Und dieser riet ihm: „Wandle einen heilsamen Weg, mein König. Wenn du für deine Familie und deine Untertanen ein Vorbild bist und die Regeln von Sitte und Anstand niemals übertrittst, wenn du stets friedfertig bleibst und keinem etwas zuleide tust, dann wirst du nach deinem Tod in himmlischer Welt wiedererscheinen." Mit Freude nahm der König diese Ratschläge an und beherzigte sie.
Noch für einige Zeit blieb der Gazellenkönig in Brahmadattas Park, um den König weiter zu belehren, ihn zu inspirieren und ermutigen, in seinem Bemühen nicht nachzulassen. Danach verschwand er mit seiner Herde für immer.
Jatakas, sogenannte Wiedergeburtsgeschichten wie die eben gehörte, sind in der buddhistischen Tradition sehr beliebt. Nicht nur bei Kindern. Sie machen den Zuhörer auf lebendige und anschauliche Weise mit den herausragenden Eigenschaften vertraut, die sich der werdende Buddha im Laufe seiner vielen vergangenen Leben erwarb. Oft sind - wie der Gazellenkönig Nigrodha - Tiere die Hauptakteure. Diese Geschichten lehren, ohne belehrend zu sein, sie geben Ratschläge, aber ohne erhobenen Zeigefinger.
Was aber macht Nigrodha wahrhaft königlich, was unterscheidet ihn von allen anderen?
In den Handlungen des edlen Tieres werden ein großes Herz und ein klarer Geist sichtbar. Es besitzt Eigenschaften, die ein Buddha in besonderer Weise verkörpert: Güte, Mitempfinden und Weisheit.
Güte hat, anders als es in unserer Gesellschaft zunehmend Mode wird, nicht nur das eigene Interesse im Auge. Sie handelt nicht egozentriert und nächstenblind, sondern sie nimmt das Wohl aller in den Blick und setzt sich dafür ein. Und das Wohl aller meint auch das Wohl aller. Sich um den eigenen Partner zu kümmern, für die eigene Familie etwas zu erreichen oder für das eigene Land da zu sein, ist kein ganz außergewöhnliches Kunststück. Aber Wohlwollen ohne Ausnahmen und Einschränkungen zu entfalten, schon. Deshalb gilt das in unserer Geschichte für jedes einzelne Tier - auch aus dem fremden Rudel. Und wie der Fortgang der Geschichte zeigt, ist davon selbst der fleischhungrige und unbarmherzige Brahmadatta nicht ausgenommen, den die Gazellen eigentlich als ihren Todfeind betrachten müssten.
Mitempfinden heißt, den anderen in seiner Notsituation zu sehen und sich nicht abzuwenden, sondern die helfende Hand zu reichen. Mitempfinden heißt, jemanden in einer schwierigen Lage zu unterstützen, auch wenn damit ein persönlicher Nachteil verbunden ist. Nigrodha ist sogar bereit, sein Leben zu opfern. Ihm ist das möglich, weil er längst keinen Unterschied mehr macht zwischen Ich und Du. Denn unterschiedslos alle Wesen wollen Schmerz vermeiden und alle streben sie nach Glück und Zufriedenheit. Wer hätte da ein größeres und wer ein geringeres Anrecht? Nigrodha kann seiner Herde so gut voranstehen, weil er seine eigenen Wünsche ohne Bedenken zurückstellt. Sein eigenes Glück ist ihm nicht wichtiger als das von jedem anderen in seinem Gefolge. Der goldene Glanz, den er um sich verbreitet, ist also nicht nur äußerlich; er gründet in dem Strahlen seines reinen Herzens.
Doch zu dem Mitempfinden des Gazellenkönigs kommt eine weitere Eigenschaft hinzu: seine tiefe Weisheit. Zum Fliegen braucht man bekanntlich zwei Flügel, und so bezeichnen Buddhisten Mitempfinden und Weisheit gelegentlich als die beiden Schwingen, die auf die Insel der Freiheit tragen. Wo Einsicht fehlt, kommt niemand ans Ziel.
Weisheit ist aber mehr als intellektuelles Wissen oder Resultat einer intensiven akademischen Bildung. Weisheit ist die Fähigkeit, das Leben in seiner Tiefe zu verstehen und intuitiv auch die verborgenen Seiten der Wirklichkeit zu erfassen.
Nigrodha weiß, dass persönliches Glück nicht auf Kosten anderer gedeihen kann. Er weiß, dass es nur aus wechselseitiger Fürsorge erwächst, wo der eine für den anderen einsteht, weil jeder dem Grunde nach mit seinem Nächsten eins ist. Einen anderen zu verletzen oder zu töten, heißt sich selbst weh zu tun oder umzubringen. Ein Mitwesen zu schonen ist dagegen der beste Schutz auch für einen selbst. Ethisches Verhalten und eine wohlwollende Geisteshaltung können nicht eingefordert oder erzwungen werden, sie erwachsen zwangsläufig und haben Bestand, wo tiefe Einsicht sie tragen.
Der Gazellenkönig kann Brahmadatta gar nicht als seinen Gegner betrachten, er ist für ihn nicht weniger ein der Hilfe bedürftiges Mitwesen als die verzweifelte trächtige Gazelle. Aus seinem Wissen kann sich Nigrodha darauf verlassen, dass Mitempfinden am Ende sogar Gewalt und Rücksichtslosigkeit besiegt, und er behält Recht. Und weil Weisheit nicht nur das vor Augen Liegende sieht, kann der Gazellenkönig seinem gelehrigen menschlichen Schüler sogar eine gute ferne Zukunft versprechen. Einwandfreies Verhalten und ein friedfertiger Geist zeitigen positive Folgen nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch jenseits des Todes. Wer ein Engel in Menschengestalt ist, kann nur in himmlischer Welt wiedererscheinen.
Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2011; nach einem Vortrag im NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 17.7.2011; 7.15 bis 07.30 Uhr; gelesen von Kornelia Paltins und Ursula Luhn.