Zeitschriftenartikel

Das Rad der Lehre dreht sich

Das buddhistische Verständnis von Mission

Alfred Weil

 

Das Rad der Lehre

Wenn man nach dem allgemeinen Sprachverständnis unter Mission die Glaubensverkündung (unter Andersgläubigen) versteht (Duden S. 738), dann sind für den Buddhismus andere Akzente zu setzen. Ihm geht es weniger um die Vermittlung eines Glaubens, sondern um die von Wissen, Einsicht, Weisheit. Das macht verständlich, warum im (ursprünglichen) Buddhismus die Vier Edlen Wahrheiten eine ganz herausragende Rolle spielen. Deshalb kommen auch weniger Andersgläubige in den Blick als orientierungslose, suchende, von Illusionen und Irrtum bestimmte Menschen. Für den Buddha galt nämlich Unwissen als Ursache für Unvollkommenheit und Leiden, dem jeder zu entkommen wünscht. Vereinfacht ausgedrückt: An die Stelle der Mission im erst genannten Sinn tritt das Anstoßen des Rades der Lehre - die Darlegung der Einsichten des Buddha, die Verbreitung religiöser Anschauung.

Adressaten

Prinzipiell sind alle leidenden und nach Befreiung strebenden Wesen gemeint. Vor allem jedoch diejenigen, die Offenheit und ein gewisses Grundvertrauen dem Buddha gegenüber aufbringen. Dabei sind keine gesellschaftlichen Gruppierungen oder sozialen Klassen ausgeschlossen. Auch Frauen haben - anders als etwa im Brahmanismus zu Zeiten des Erwachten - die Möglichkeit, alleine oder gemeinschaftlich zu lernen und zu praktizieren. Schließlich gilt der Buddha traditionell als der Lehrer der Götter und der Menschen, weil er nicht nur Menschen seine Hilfe anbietet.
Seine Anleitungen nennt der Buddha ehipassika, sie sind einladend, ermutigen zum selber erproben. Das heißt, dass der Erwachte Interessierten, Fragenden, Suchenden Angebote macht, Möglichkeiten zeigt, Antworten gibt, sofern solche erwünscht sind. Dem entspricht die uneingeschränkte Freiheit, unbehelligt auch ganz fern zu bleiben oder sich wieder abzuwenden, wenn die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt werden.

Wege der Verbreitung

Der Buddha versteht sich selbst hauptsächlich als Lehrer und Wegweiser. Er bietet Hilfe zur spirituellen Selbsthilfe, er kann Ziele zeigen und Wege dahin nennen, die der Einzelne jedoch selbst aus Überzeugung gehen muss.
Mündliche Belehrungen stehen im Vordergrund. Der Erwachte baut auf die Kraft des Wortes, das existenzielle Wahrheiten verkündet und Anleitungen zur religiösen Praxis gibt. Hinzu kommt der Vorbildcharakter seines eigenen Tuns und Lassens, das die vermittelten Wahrheiten auch unmittelbar repräsentiert.
Die Verbreitung intellektuell überzeugender oder intuitiv als richtig empfundener Aussagen hat dann die besten Aussichten, wenn die Möglichkeit gegeben ist, sie selbst an der Realität zu messen. Deshalb ermutigte der Buddha ausdrücklich, sich nicht von Dogmen oder bloßen Meinungen leiten zu lassen, so plausibel sie auch erscheinen, sondern mehr und mehr auf die eigene Erfahrung zu bauen.
Religiösen Lehren anderer Herkunft stand der Buddha nicht grundsätzlich skeptisch oder ablehnend gegenüber, sondern er ließ deren Wahrheitsgehalt durchaus gelten. Nicht die Beseitigung oder Unterdrückung vorgefundener religiöser Traditionen war seine Absicht, sondern ihre angemessene Würdigung. Er begrüßte sie, wo sie Richtiges und Heilsames sagten, zeigte ihre Begrenzungen auf, wo sie nicht tief genug waren, und überhöhte sie mit seiner umfassenden Weisheit. Das war möglich, weil er bei den unterschiedlichen religiösen Traditionen einen beachtlichen gemeinsamen Schatz an zutreffenden Aussagen über die Existenz und an praktischen Hilfen für ihre Anhänger sah. Die herausragende Rolle ethischen Verhaltens, die Tatsache des Jenseits und des Lebens nach dem Tod sowie die Wichtigkeit der inneren Läuterung und Transzendierung des Sinnlichen seien als Beispiele genannt.
Die Anwendung von Gewalt lehnte der Buddha kategorisch ab, wenn es um die Verbreitung seiner Spiritualität ging. Ihm war nur zu klar, dass Zwang oder Druck jeder Art zwecklos, ja kontraproduktiv waren und immer das (eigentliche) Ziel verfehlen mussten. Eine Bekehrung zum Buddhismus wider Willen kann es nicht geben. Wissen und Einsicht lassen sich weder anordnen noch zwangsweise durchsetzen. Ganz abgesehen davon, dass Gewalt per se negative Folgen für alle Beteiligten hat, nicht zuletzt für den Täter selbst (Stichwort Karma).
Tatsächlich sprach der Buddha (in aller Regel) niemanden von sich aus an, um ihn zu belehren. Allenfalls in besonderen Situationen, in denen er eine innere Bereitschaft bei seinem Gegenüber ausmachte. Ein bezeichnendes Schlaglicht wirft das Verhalten des Buddha auf seiner Wanderschaft, die ihn über viele Jahre hinweg durch das nördliche Indien führte. Erreichte er ein Dorf oder eine Stadt, war es gute Übung, eine heilsame Mitte zwischen Nähe und Distanz zu halten. Er hielt sich so weit von den Wohngebieten entfernt, dass er sein zurückgezogenes und meditatives Leben weiterhin führen konnte und niemandem mit seiner Anwesenheit bedrängte; aber er war doch so nah, dass er für jeden Fragenden oder Rat Suchenden ohne besondere Mühe erreichbar war. Er machte sich auffindbar und war für jeden ansprechbar, aber ohne sich in irgendeiner Weise aufzudrängen oder anzubiedern. Es zeigte sich, dass diese Gelegenheit zum Zuhören und zum Austausch von sehr vielen Menschen und gerne ergriffen wurde. (Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass die Lehrweise bezüglich seiner erklärten Schüler anders war, die er freilich regelmäßig und systematisch schulte und natürlich auch die Initiative dazu ergriff.)
Ein weiterer Weg der Verbreitung der buddhistischen Lehren war der - wir würden heute sagen - interreligiöse Dialog. Immer wieder lesen wir in den buddhistischen kanonischen Texten von Gesprächen, die der Buddha mit Anhängern anderer Weltanschauungen oder mit religiösen Führern anderer Traditionen hatte. In solchen - zum Teil großen und öffentlich mit Interesse verfolgten - Debatten wurden die Unterschiede zwischen den jeweiligen religiösen Schulen im direkten Vergleich erkennbar, und dort konnte sich auch die Überzeugungskraft der jeweiligen Lehrer bewähren.
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass Belehrungen des Buddha idealerweise in der eigenen Sprache der Zuhörer erfolgten und erfolgen sollten. Die beste Möglichkeit des Verständnisses tiefer Wahrheiten, so der Erwachte, ist stets, sie über die Muttersprache kennen zu lernen. Eine Systematisierung und Übertragung seiner Anleitungen in eine Gelehrtensprache (Sanskrit) lehnte er daher ab, als er gelegentlich darum gebeten wurde.
Last not least: Generell wollte der Buddha seine Überzeugungsarbeit nicht durch Wunder(taten) verstärken, die ihm mit seiner Geisteskraft durchaus möglich gewesen wären. Die Macht der Wahrheit, der Einblick in die Realität war für ihn vielmehr maßgeblich. Es gibt, unterstrich er, nur ein wirkliches Wunder: das Wunder der Belehrung.
Für dieses Wunder der Belehrung gab es vor gut 2.500 Jahren allerdings überaus günstige Voraussetzungen. Zum einen herrschte zu Lebzeiten des Buddha Gotama geradezu eine religiöse Aufbruchstimmung. Asketische und philosophische Sekten gab es zuhauf, die Zahl der Suchenden wie der Lehrenden war enorm, die Offenheit und Unterstützungsfreudigkeit der Bevölkerung gegenüber solchen Bestrebungen beachtlich. Alternative spirituelle Ansätze waren gefragt, weil eine wachsende Unzufriedenheit mit dem damals längst erstarrten System des Brahmanismus und seines Opferkultes viele Menschen sich nach neuen Horizonten umschauen ließ. Zudem konnte der Buddha bedeutende politische Größen zu seinen Anhängern rechnen. König Pasenadi von Kosala und König Bimbisara von Magadha waren maßgebliche Förderer, die sowohl den Buddha selbst als auch seinen Orden ideell wie materiell tatkräftig unterstützten. Dass dies von einem nicht zu unterschätzenden Vorteil für das Bekanntwerden und die allgemeine Akzeptanz des Buddhadhamma war, versteht sich von selbst.

Motivation

Wenn wir nach dem Motiv forschen, aus dem heraus der Buddha 45 Jahre zu zahllosen Menschen sprach, stellen wir vielleicht mit einiger Verwunderung fest: Der Erwachte wollte ursprünglich gar nicht lehren. Die von ihm entdeckte Wahrheit schien ihm zu weit von den alltäglichen Interessen der Menschen und ihren Verständnismöglichkeiten entfernt, um eine angemessene Beachtung finden zu können.
Ich sehe darin einen Beleg dafür, dass bei der dennoch einsetzenden Verkündung und Verbreitung der buddhistischen Spiritualität keine persönlichen Beweggründe des Religionsgründers eine Rolle spielten. Vor allem materielle Interessen kamen nicht in Frage. Die weitgehende Bedürfnislosigkeit und Anspruchslosigkeit des Buddha und seiner Ordensmitglieder bezeugten das. Für jemanden, der die Ich-Illusion durchschaut und überwunden hatte, waren auch Macht- oder sonstige Eigeninteressen wie Prestige, Anerkennung, Ruhm oder Lob ohne jede Bedeutung. Eine Absicht oder ein Anreiz, die Zahl der Anhängerinnen und Anhänger - aus welchen Gründen auch immer - zu vermehren, bestand ebenso wenig.
Tatsächlich beginnt der Erwachte seine Unterweisungen erst nach der Aufforderung durch Brahma Sahampati, einer der indischen Tradition gemäß hohen Gottheit. Sie bittet ihn eindringlich, die gefundene Wahrheit nicht für sich zu behalten, sondern an Menschen mit wenig Staub auf den Augen weiterzugeben, die ohne diese Hilfe verloren wären (Majjhima Nikaya 26). Allein aus Mitempfinden, aus Erbarmen und Wohlwollen für alle leidenden Wesen nahm nun der Buddha also seine Lehrtätigkeit trotz seiner anfänglichen Bedenken auf. Unter dieser Voraussetzung war es freilich wünschenswert, möglichst viele Menschen zu erreichen und ihnen Hilfe anzubieten. Aus diesem Grund empfahl der Buddha seinen Mönchen nicht zu zweien auf gleichem Weg zu gehen, sondern sich über das weite Land zu verteilen (Samyutta Nikaya 4,5). In derselben Lehrrede kommt zugleich zum Ausdruck, wen der Buddha auffordert, die Lehre zu predigen. Er richtet seinen Auftrag an die Mitglieder seines Ordens, die ihn erlöst von allen (irdischen und himmlischen) Schlingen erfüllen können - eben frei von jeder geistigen Trübung und jedem Eigeninteresse.

Wahrheitsanspruch

Wovon andere Weise sagen, das ist, davon sage auch ich, das ist (Samyutta Nikaya 22,94). Wie gesagt, beanspruchte der Buddha nicht jede religiöse Wahrheit für sich. Für die Einsicht in die Realität und ihre Vermittlung konnte es für ihn kein Copyright geben, und die Fähigkeit zu Wissen und Weisheit war nicht auf ihn beschränkt. Aber dennoch: Neben der nüchternen Feststellung mancher Gemeinsamkeiten zwischen religiösen Traditionen reklamierte der Buddha nachdrücklich eine Lehre, die den Erwachten eigentümlich ist (Majjhima Nikaya 56 u.a.). Eben die Vier Edlen Wahrheiten, die nur von Buddhas enthüllt und weitergegeben werden. Der Buddha verstand sich als ein Vollendeter, als jemand, der uneingeschränktes Wissen erlangt hatte und der völlig heil geworden war, von allem Leiden endgültig erlöst. Diesen Status in vollem Umfang verneinte er gegenüber anderen spirituellen Größen seiner Zeit. Damit war der Erwachte eigenem Anspruch gemäß der unübertroffene wie der nicht übertreffbare Meister und Lehrer.
Das ist sicher der höchste, aber dennoch kein exklusiver Wahrheitsanspruch. Er relativiert sich dadurch, dass die gefundene und verkündete Wahrheit (dhamma) universellen Charakter hat und auch ein Buddha sich an ihr orientieren und sich ihr unterordnen muss. Die vier Edlen Wahrheiten sind also nicht seine Erfindung, sondern seine Entdeckung. Zudem reklamierte der (historische) Buddha Sakyamuni nicht für sich, den befreienden Schatz der Weisheit als einziger oder als erster gefunden zu haben. In den anfanglosen Zeitläufen der Existenz, die die Buddhisten unterstellen, hat es immer wieder schon vergangene Buddhas gegeben, die im Kern dasselbe erkannt und gelehrt haben. Und in der Zukunft wird es erneut Erwachte geben, die den Daseinstraum beenden und ihren Weckruf deutlich vernehmen lassen.

Relativierung

Meine Darstellung bisher war in einem gewissen Sinn idealtypisch. Ihr liegt eine wichtige Unterscheidung zugrunde: die zwischen der Lehre eines Buddha (dhamma) und dem, was gewöhnlich Buddhismus (sasana) genannt wird.
Meine These ist, dass die von dem Erwachten mitgeteilten Wahrheiten ohne Einschränkung der Wirklichkeit entsprechen und einen befreienden Charakter haben. Für mich gelten auch die Person des Erwachten und sein Verhalten als vollendet und einwandfrei. Für den Buddhismus als institutionalisierte Religion sowie für deren Anhänger kann ich das nicht ohne deutliche Einschränkungen im Einzelnen gelten lassen.
Das erklärt sich historisch aus der kaum zu bemeisternden Schwierigkeit, etwas Vollkommenes dauerhaft zu bewahren beziehungsweise von mehr oder weniger unvollkommenen Menschen zu tradieren. Der Buddha selbst prophezeite das Bestehen der Guten Lehre für nur rund 500 Jahre, also in etwa bis zur Zeitenwende (Anguttara Nikaya 8,51). Danach, sagte er voraus, würden nach und nach einsetzende Verfallserscheinungen deutlich, bis hin zum völligen Verschwinden der Lehre in ferner Zukunft.
Mängel jeder organisierten Religion treten selbstverständlich auch im Buddhismus zutage. Menschliches Unverständnis generell sowie persönliche Unzulänglichkeiten und Missverständnisse waren unvermeidbar. Eine zunehmende Entfremdung der Anhängerschaft vom Wesenskern der buddhistischen Spiritualität, das Wenigerwerden tieferer spiritueller Erfahrung, Veräußerlichung und Verflachung der spirituellen Praxis taten ein Übriges. Des Weiteren veränderten ausufernde Scholastik, verengende Dogmatisierung und blinde Ritualisierung oder Gläubigkeit usw. das Erscheinungsbild des Buddhismus. Natürlich blieben von diesem Wandel die Formen der Verbreitung nicht unberührt.
Wenn religiöses Engagement und der eigene Lebenserwerb zusammenfallen, ist auch das nicht ohne Folgen. Persönliche materielle Interessen mögen mehr in den Vordergrund treten, sachfremde Motive wie der Gewinn von Prestige und Anerkennung an Bedeutung gewinnen. Beabsichtig oder unbeabsichtigt können so unangebrachte Ausbreitungsstrategien entstehen. Das umso mehr, wenn mit religiösen Institutionen und ihren Hierarchien spezielle Eigeninteressen aufkommen. Insofern mag Buddhistische Mission in vielen konkreten Fällen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart belastet sein und sich von dem ursprünglichen Ideal entfernt haben.

 

In: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft - Nr. 3/2012
Nach einem Vortrag anlässlich der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft (DGMW): Challenging Missions. Religiöse Ausbreitungsstrategien beim Muslimen, Hindus, Buddhisten und Christen; Leipzig 6.-8.10.2011; Response A.W. auf Vortrag von Martin Repp: Mission des Buddhismus - Einführung in Geschichte und Strategien.


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