Alfred Weil
Zwei Freunde haben gerade ihr Dorf verlassen und sich auf den Weg gemacht. Sie wollen einen schönen Tag miteinander verbringen und eine ihnen noch wenig vertraute Gegend erkunden.
Bald sehen sie einen beeindruckenden Felsen vor sich, der ihnen bisher noch nie aufgefallen ist. Einer der beiden zögert keinen Moment und beginnt mit dem Aufstieg, während der andere abwartend am Fuße des Felsens zurückbleibt. Natürlich will er später wissen: „Was siehst du da oben, mein Lieber? Gibt es da etwas Interessantes?“ „Und ob“, lautet die Antwort. „Der Ausblick ist grandios. Vor mir liegt ein herrlicher Wald, ich erblicke eine liebliche Landschaft mit entzückenden Lotosteichen.“
Der Zurückgebliebene ist verwundert, er kann es nicht glauben. „Das kann doch gar nicht sein“, erwidert er. „Wie könnte es von da eine solche Aussicht geben?“
Dem so Angesprochenen bleibt nichts anderes übrig, als von dem Felsen wieder herabzusteigen. Er packt seinen Freund am Arm und animiert ihn freundlich mitzukommen. Mit seiner Unterstützung steigen jetzt beide gemeinsam auf den Gipfel. Etwas anstrengend ist die Kletterei schon, und oben angelangt muss sich der noch immer etwas misstrauische Freund erst ein wenig ausruhen. „Was siehst du jetzt, mein Lieber“, wird er alsbald gefragt, und er muss unumwunden zugeben: „Der Ausblick ist wirklich überwältigend.“
„Hast du nicht vorher etwas ganz anderes gesagt“, hakt der erste nach. „Hast du nicht steif und fest behauptet: `Das ist ganz und gar unmöglich, so etwas gibt es nicht!`“ – „Du hast ja recht, aber dieses Felsmassiv hatte mir die Sicht versperrt.“ –
Keine aufregende Geschichte, zugegeben. Aber der Buddha will mit ihr nicht für Unterhaltung oder spannende Momente sorgen. Sie soll uns vielmehr etwas Entscheidendes illustrieren.
Das Dorf, von dem die Rede war, steht für das Unspektakuläre, das Gewöhnliche, für unser vertrautes Alltagsleben. Es ist die Art und Weise, wie wir uns in unserer Familie bewegen, unserem Beruf und unseren Hobbies nachgehen. Die üblichen Erfahrungen und Gefühle, das Denken in den gewohnten Bahnen, überkommene und nicht hinterfragte Sichtweisen – all das ist das Dorf.
Ganz in der Nähe des Dorfes gibt es eine Felsformation, wie wir gehört haben. Sie ist schon immer da gewesen, wurde aber von den beiden Freunden nie weiter beachtet, wenn nicht völlig übersehen. Obwohl sie so hoch und massiv ist, dass sie alles hinter ihr Befindliche verdeckt.
Mit diesem Vergleich verweist der Buddha auf die Verblendung und die Unwissenheit des Menschen, von der er selbst gar keine Ahnung hat. Tatsächlich kennt er das Dasein nur sehr begrenzt, tiefere Wahrheiten bleiben für ihn unsichtbar. Die Fixierung auf das Alltägliche, Vordergründige und Materielle verstellt seinen Blick auf die anderen Seiten des Lebens.
Wer nur auf die Sinnendinge und auf die mit ihnen verbundenen angenehmen Gefühle achtet, bleibt für alles Jenseitige blind. Weil er von den weltlichen Dingen gänzlich eingenommen ist, kommt ihm schon der Gedanke an das Transzendente abwegig vor. „Ein Dasein jenseits des Grob-Materiellen, Sichtbaren und Messbaren? Ein Leben nach dem Tod? Das kann es gar nicht geben!“
Die beiden besagten Freunde sind offensichtlich recht verschieden. Der eine besitzt Forschergeist und ist voller Tatendrang, er will seine Umgebung erkunden und genauer kennenlernen. Also ergreift er die Initiative. Er will die menschliche Existenz ganz verstehen, die höchste Wahrheit finden. Und seine Mühe lohnt sich. Sein beherzter Aufstieg auf den Felsen wird mit einem weiten und klaren Rundumblick belohnt. Erst vom Gipfel aus sieht er ungehindert bisher Unbekanntes und Unentdecktes. Dieser Pionier ist der Buddha, der das Dunkel der Unwissenheit beendet und befreiende Weisheit erlangt hat. Als ein Freund wendet er sich an die Mitbewohner seines Dorfes – allen voran an die, die ihm ihr Vertrauen schenken. Ihnen berichtet er von seinen außerordentlichen Einsichten und eröffnet ihnen damit neue Horizonte. Er ermutigt sie zum Aufbruch. Ein Buddha ist kein Prophet und kein göttliches Wesen, sondern ein Mensch, der den Weg des Erwachens aus dem Daseinstraum vorangegangen ist und ein großer Menschheitslehrer wurde.
In unserer Metapher ist der am Fuß des Berges zunächst Zurückgebliebene der gewöhnliche Mensch, der mit den tieferen Dimensionen des Daseins noch nicht in Berührung gekommen ist. Der also sein vertrautes Dorf noch nie verlassen und noch nie einen Gipfel mit Fernblick erklommen hat. Geschweige, dass er die einzigartige Aussicht von dort schon einmal genießen konnte.
Und doch ahnt er vielleicht schon länger, dass es noch etwas anderes gibt als nur das vor Augen Liegende. Schöneres und Lohnenderes. Ein vertrauenswürdiger Freund mit einem tieferen Verständnis und weiterreichenden Erfahrungen ist da ein Glücksfall. Da machen sich beide auf, um selbst gesetzte Grenzen zu überschreiten und neue Weiten zu erobern. Frühere Skepsis gegenüber dem Unbekannten und Mutlosigkeit müssen zurückgestellt und gewohnte Alltagspfade verlassen werden. Nach der Rückkehr in das Dorf mag jeder erst einmal weiter seine gewohnten Annehmlichkeiten genießen und seinen Aufgaben nachgehen. Aber er wird es mit einem ungleich weiteren Blick auf die Welt und mit anderen Zukunftsaussichten tun.
Kehren wir noch einmal zu unserer Geschichte zurück. Arm in Arm besteigen die beiden Freunde also den Berg. Der zunächst Zögernde hat in seinem Begleiter einen kundigen Führer. Denn jener war schon einmal oben und hat das Terrain genau erkundet. Er kann vor Um- und Abwegen warnen und auf besondere Gefahrenstellen aufmerksam machen. Denn das Leben ist gefährlich und voller Unzulänglichkeiten. Tatsächlich vermittelt der Buddha ein tieferes Wissen über die leidbehaftete Lebenswirklichkeit, die auf seiner eigenen Erfahrung beruht. Da ist nichts Ausgedachtes oder Zusammengesponnenes. Den gezeigten Weg aber muss jeder selbst gehen, ein Erwachter ist nur ein Wegweiser zum Helleren und Freieren. Erlösung allein durch die Gnade und das Mitempfinden einer höheren Instanz gibt es nach buddhistischer Auffassung nicht.
Dem mit den Lehren des Buddha näher Vertrauten wird das Gleichnis vom Felsen noch weit mehr sagen. Ja er kann in ihm Hauptetappen dieses religiösen Aufstieges wiederfinden.
Erinnern wir uns: Der am Fuße des Berges Zurückgebliebene ruft und fragt seinen Freund nach dessen Erfahrungen. Die überraschende Antwort. „Die Aussicht ist herrlich! Es lohnt sich heraufzusteigen!“ Das ist die gehörte Weisheit, die am Anfang jeder geistigen Entwicklung steht. Wir borgen vom Wissen anderer, das uns sagt, worum es im Leben wirklich geht und wie wir die neuen Ziele erreichen können. Allerdings kann Weisheit nur aufkeimen, wo wirkliches Interesse an der Wahrheit besteht und jemand auf klare und inspirierende Weise über sie Auskunft geben kann.
Wenn ich mein Leben bereichern und freudvoller machen will, benötige ich also eine realistischere Sichtweise. Doch sie allein genügt nicht, Religiosität hat auch eine ebenso wichtige praktische Seite. Sie erfordert genauso das richtige Maß an Mühe und Einsatz. Aus besserem Wissen muss ein angemesseneres Verhalten hervorgehen. Und auch das ist Gegenstand des Gleichnisses.
Der inzwischen neugierig gewordene und inspirierte Freund muss wohl oder übel den Berg hinaufsteigen. Erst dann ist mit der guten Aussicht zu rechnen. Er darf nicht im Gewohnten und Alltäglichen verharren. Die einspurigen Bahnen seines Denkens und Handelns führen nicht mehr weiter. Es gilt, festgefahrene Muster zu sprengen. Vor allem hinsichtlich fragwürdiger oder gar unguter Verhaltensweisen. Das ist gewöhnlich der längste und schwierigste Teil des Unternehmens: ungewohnt und anstrengend. Sich charakterlich auf Vordermann zu bringen, ist nie einfach, es bedarf steter Aufmerksamkeit und ziemlicher Ausdauer. Eine Strecke bergauf kann eben schweißtreibend sein.
Damit ist der ethische Teil des buddhistischen Weges gemeint. Vieles im menschlichen Begegnungsleben kann verbessert und auf eine solidere Basis gestellt werden. Angemessenes Handeln und Reden sowie richtige Lebensführung sind die drei Bereiche, auf denen es sich zu bewähren gilt. Der Ratschlag des Buddha: Verhalte dich am besten so, dass du dabei niemanden bewusst verletzt, schädigst oder rücksichtslos behandelst. Universelles Wohlwollen, Freundlichkeit und Güte sind die besten Leitlinien im Umgang nicht nur mit anderen Menschen, sondern mit allen Wesen. Davon wirst du selbst ebenfalls profitieren, denn liebevolles Handeln kehrt zu dir zurück.
Nach dem mühevollen Aufstieg, so haben wir auch erfahren, kann sich der Kletterer ausruhen. Oben angekommen wird er erst einmal eine wohlverdiente Verschnaufpause einlegen. Er setzt sich auf einen Stein oder einen Baumstamm und atmet tief durch. Er spürt eine große Genugtuung, wenn er an die zurückgelegte Strecke denkt. Aber eben nicht nur körperlich kommt er zur Ruhe. Die Metapher zielt vor allem auf eine bislang unbekannte Stille und einen beseligenden Frieden des Herzens, die nun eingetreten sind. Das hektische Begegnungs- und Vielfaltsleben des weltlichen Alltages ist abgeklungen und hat schließlich ganz aufgehört. Das Innere des Menschen ist ganz und gar besänftigt. Das ewige Haben- und Sein-Wollen schweigt für diese Zeit. Der bislang immer ungestillte Durst nach reizvollen Sinnendingen hat einer neuen Erfahrung von innerem Wohl Platz gemacht: dem Glück der Selbstgenügsamkeit und seliger Weltvergessenheit.
Schließlich sieht der anfangs zweifelnde Freund mit eigenen Augen einen schönen Park und eine blühende Landschaft. Längst ein anderer geworden, hat er auch einen veränderten Blick für die Wirklichkeit gewonnen. Sein bislang nur auf das wuselige Treiben in seinem Dorf bezogenes Interesse ist in den Hintergrund getreten. Sein Denken und Wollen sind frei geworden von den Gegenständen der engen und staubigen Straßen seines Zuhauses. Er wendet sich etwas weitaus Beglückenderem zu: der Freude beim Betrachten eines entzückenden Lotosteiches! – in der buddhistischen Überlieferung Symbol für völlige Reinheit und höchstes Glück.
Nach einem Vortrag in NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 09.01.2022, 7.15 Uhr bis 7.30 Uhr – gelesen von Kornelia Paltins