Zeitschriftenartikel

Alles verloren - alles gewonnen

Die Geschichte von Kisagotami und Patacara



Die Lebensgeschichten zweier Frauen werden in der buddhistischen Tradition immer wieder gerne und in vielen Varianten erzählt. Beide - Kisagotami und Patacara - sehen sich mit dramatischen Ereignissen konfrontiert, die sie aus der Bahn zu werfen und ihr Glück vollends zu zerstören drohen. Aber sie resignieren im Angesicht von Tod und Verlust nicht, sondern sie gehen gestärkt aus den für sie so kritischen Situationen hervor. Aus zunächst deprimierten und verzweifelten werden am Ende souveräne und befreite Frauen.


Kisagotami

Zu Zeiten des Buddha lebt Gotami in Savatthi. Äußerlich gesehen ist sie eine nicht besonders attraktive Frau. Sie stammt aus bescheidenen sozialen Verhältnissen und weil sie so schmal ist, wird sie von allen Kisagotami, die dürre (kisa) Gotami genannt. Aus diesem Grund findet sie auch lange keinen Partner, mit dem zusammen sie sich ihren innigsten Herzenswunsch hätte erfüllen können, Mutter zu werden.

Als sie schon nicht mehr zu hoffen wagt, lernt sie einen liebenswerten Mann kennen, einen begüterten Kaufmann, der sie als Mensch sehr schätzt. Beide heiraten, und schließlich bringt Kisagotami einen Sohn zur Welt. Ihre Freude ist unbeschreiblich. Endlich ist sie am lang ersehnten Ziel. Ihr Glück ist vollkommen. Doch bald darauf passiert das Schreckliche: Das Kind stirbt unerwartet in ganz jungen Jahren.

Mit einemmal scheint Kisagotamis Lebensmittelpunkt zerstört, ihr Lebenssinn zerronnen, ihr größter Schatz verloren. Unbändige Trauer überkommt sie und instinktiv weigert sie sich, die bedrückende Tatsache überhaupt anzunehmen. Sie verleugnet den Tod ihres Kindes, in ihrer bedrückenden Not schaut sie einfach weg. Das Kind schläft sicher nur, denkt sie. Oder es ist in eine vorübergehende tiefe Ohnmacht gefallen oder es leidet an einer schlimmen Krankheit.

Natürlich wendet sie sich Hilfe suchend an die Menschen um sie herum. Doch ihr Bemühen ist vergeblich, nirgends findet sie Unterstützung oder ärztliche Hilfe. Niemand kann das Kind wieder zum Leben erwecken. Es ist tot, sagen alle, obwohl sie das weder hören will noch zu glauben wagt.

Noch einmal keimt Hoffnung in ihr auf: Ein großer Weiser sei in der Stadt, heißt es, der kenne vielleicht einen Ausweg. Also sucht sie ihn auf, so schnell sie kann, und klagt ihm ihr Leid. Und tatsächlich erhält sie einen Rat, der ihr unversehens wieder Zuversicht gibt: „Geh in die Stadt und lass dir eine Handvoll Sesamkörner geben, sagt der Mann zu ihr. Aber achte darauf, dass sie aus einem Haus stammen, in dem nie jemand starb. Wenn du das Gesuchte bekommst, ist dir geholfen."

Kisagotami verliert keine Sekunde und eilt rastlos von Tür zu Tür. Überall fragt sie nach, und alle wollen sie ihr natürlich gerne die gewünschten Sesamkörner geben. Aber die gestellte Bedingung können sie nicht erfüllen. Kein Haus findet sich, in dem nicht schon Mutter und Vater, Schwester und Bruder, Tochter und Sohn gestorben sind.

Da wird Kisagotami schlagartig und ein für allemal klar: Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens ist universell, vom Moment der Geburt an gehen wir auf den Tod zu und wir wissen nicht, wann der Zeitpunkt des Sterbens gekommen sein wird. Ausnahmen gibt es keine. Und deshalb müssen wir alle früher oder später von lieben Menschen Abschied nehmen. Irgendwann haben wir uns ganz sicher von allem trennen, was uns wert und teuer ist.
Das Erlebnis Kisagotamis ist die unmittelbare Begegnung mit der Daseinswirklichkeit. Und sie wird die wichtigste Erfahrung ihres Lebens. Sie ist dem Tod in Berührung gekommen - bewusst und mit tiefem Verstehen. Worte haben sie bislang nicht berührt und schon gar nicht überzeugt, aber die anschauliche Einsicht in die Realität im Gespräch mit ebenfalls betroffenen Menschen in ihrer Nachbarschaft.

Nun kann sie ihre schmerzliche Situation annehmen und die bisher größte Herausforderung meistern. Kisagotami ist in der Lage, von ihrem Kind Abschied zu nehmen und ihren inneren Frieden zurück zu gewinnen. Mehr noch: Was die trauernde Mutter zuerst wie das Ende der Welt empfindet, stellt sich bald als Beginn einer weitreichenden inneren Entwicklung heraus. Der entsetzliche Schicksalsschlag wird zur Wende, weil er die Aufmerksamkeit der geschlagenen Frau auf die tieferen Dimensionen des Daseins lenkt. Was im grauen Alltag oder zu Zeiten von Freude und Zufriedenheit meist übersehen wird - nichts in dieser Welt kann wirklich Halt und Sicherheit geben. Alles ist nur geliehen, allenfalls vorübergehender Besitz und von begrenztem Wert. Unverlierbar prägt sich die Erkenntnis ein, dass Glück im wahren Sinne des Wortes jenseits materieller Gegebenheiten und bedingter Phänomene zu suchen ist.

Kisagotami kehrt alsbald zu dem Mann zurück, dem sie schon jetzt soviel zu verdanken hat und der ihr Leben noch mehr verändern wird. Natürlich handelt es sich dabei um den Buddha, der sie bereits erwartet. Ihm kann sie nun berichten, dass Sesamkörner keinerlei Bedeutung mehr für sie haben und sie den Tod ihres geliebten Kindes inzwischen akzeptieren kann. Doch ist der aktuell erlittene Verlust für sie längst nicht mehr die einzige Sorge. Kisagotami hat die Unsicherheit des Lebens und die Zerbrechlichkeit des Daseins insgesamt durchschaut und möchte ganz frei davon werden. Sie bittet den Buddha um Aufnahme in den Orden der Nonnen, die ihr auch gewährt wird. Alle äußeren und inneren Bedingungen für einen solchen intensiven spirituellen Weg sind gegeben. Und, so sagt die Überlieferung, aus der verzweifelten Kisagotami ist im Laufe der Zeit und einer entsprechenden spirituellen Praxis eine befreite Kisagotami geworden. Ihre endgültige Befreiung und Krönung ihrer inneren Wandlung erreicht sie bei einer stillen Betrachtung des Flackerns eines Feuers in ihrer Hütte. Es wird für sie zum anschaulichen Bild für die Bewegtheit und Unstetigkeit aller Erscheinungen. Schön ist die Flamme anzuschauen, sie verbreitet auch Licht und Wärme, aber sie hat keinen Bestand.

Patacara

Fast wie ein schlechter Roman liest sich die Lebensgeschichte von Patacara. Sie entstammt einer reichen Kaufmannsfamilie und wohnt ebenfalls in Savatthi. In jungen Jahren verliebt sie sich in einen Angestellten im elterlichen Haus. Da Vater und Mutter für sie freilich eine „bessere Partie" vorgesehen haben und die jetzige Beziehung nicht dulden, beschließt sie, mit dem Mann ihres Herzen zu fliehen.

Beide leben von nun an in einem Dorf in der Nähe ihrer Heimatstadt. Sicher sind die materiellen Umstände gerade für die junge Frau beschwerlich, weil sie auf viele Annehmlichkeiten verzichten und manche ungewohnte Arbeiten selbst übernehmen muss, doch dem Paar ist das recht.

Nach nicht allzu langer Zeit wird Patacara das erste Mal schwanger. Eigentlich möchte sie - trotz des Zwistes mit ihren Eltern - zur Niederkunft in ihr Elternhaus zurückkehren und macht sich heimlich auf den Weg. Ihr Mann nämlich hält von diesem Vorhaben nichts, weil er die Rache der hintergangenen Schwiegereltern befürchtet. Als er mitbekommt, dass seine Frau zu ihnen unterwegs ist, läuft er ihr nach und holt sie ein. Er will sie unbedingt zur Umkehr bewegen. Mittlerweile haben aber bei Patacara die Wehen eingesetzt und jedes weitere Wort ist unnütz. Bald darauf wird ein kleiner Junge geboren, und die junge Familie kehrt nun in ihr Haus zurück.

Einige Zeit später wird Patacara erneut schwanger, und wieder will sie zur Geburt ihr Elternhaus aufsuchen. Die frühere Meinungsverschiedenheit zwischen den Eheleuten flammt erneut auf, aber die werdende Mutter lässt sich jetzt nicht mehr von ihrem Plan abbringen. Die beiden Erwachsenen und das Kind gehen los. Unterwegs werden sie von einem für diese Jahreszeit ungewöhnlichen und zugleich sehr starken Unwetter überrascht. Der Regen fällt mit außerordentlicher Heftigkeit und ein kräftiger Sturm fegt über sie hinweg. Nirgendwo ist ein Haus in Sicht, das ihnen Schutz gewähren könnte, sie sind den Naturgewalten wehrlos ausgesetzt. Entschlossen macht sich der Mann auf die Suche nach einer Zuflucht. Doch er kehrt nicht zurück. Lange bleibt Patacara alleine, und unter den widrigsten Umständen kommt das zweite Kind auf die Welt.

Nach vergeblichem Warten und nachdem Patacara wieder einigermaßen zu Kräften gekommen ist, beschließt sie, in dieselbe Richtung zu marschieren wie ihr Mann zuvor. Schon denkt sie, er habe sie verlassen, als sie ihn jedoch nach einer Weile findet. Tot. Eine von ihm aufgeschreckte Schlange hatte ihn gebissen und offensichtlich war ihr Gift so stark, dass der Tod unmittelbar nach der Verletzung eintrat. Entsetzen und Verzweiflung, Selbstvorwürfe und Angst machen sich bei Patacara breit. Doch weder Tränen noch lautes Klagen helfen ihr in dieser Situation. Sie mobilisiert die letzten Kräfte, nimmt das Neugeborene in den Arm und den Jungen an die Hand, um sich irgendwie nach Savatthi durchzuschlagen.

Ein neues Hindernis tut sich auf. Auf ihrem Weg muss die junge Frau den Fluss Aciravati überqueren, der aufgrund der sintflutartigen Regenfälle zu dieser Zeit über alle Maßen angeschwollen ist. Mit beiden Kindern gleichzeitig schafft sie es nicht, das ist ihr klar. Also muss sie sich wohl oder übel entschließen, erst das Jüngste an das andere Ufer zu bringen und dann den wartenden Jungen nachzuholen. Alles scheint gut zu gehen. Der Säugling hat die waghalsige Überquerung hinter sich, und seine Mutter ist schon wieder auf halben Weg zurück zu dem älteren Bruder. In der Mitte des Flusses jedoch stürzt plötzlich ein riesiger Adler auf das Neugeborene, packt es und fliegt mit ihm davon. An Hilfe ist nicht zu denken, die lauten Entsetzensschreie der Mutter bewirken nichts. Ganz im Gegenteil. Sie irritieren den am Ufer Zurückgeblieben. Er glaubt, seine Mutter rufe ihn, und gleich setzt er sich in Bewegung und läuft ihr entgegen. Ist die starke Strömung schon für jeden Erwachsenen eine nicht zu unterschätzende Gefahr, für das Kind bedeutet sie das Verderben. Sofort verliert es den Halt, wird mitgerissen und versinkt in der Flut.

Patacara ist wie betäubt. Sie begreift noch nicht richtig, was geschehen ist, und nur ein Gedanke noch hat Raum in ihrem Kopf. Sie will nach Hause zu ihren Eltern, die jetzt ihre einzige Stütze sind. Kurz vor Savatthi kommt ihr jemand auf dem Weg entgegen, den sie sogleich anspricht. Natürlich möchte sie wissen, wie es um ihre Familie steht, die sie so lange nicht mehr gesehen hat. Der Fremde schweigt zunächst und schüttelt nur den Kopf. Er weigert sich zu antworten, aber Patacara lässt nicht locker. Schließlich kommt die zögernde Auskunft: „Das verheerende Unwetter der vergangenen Stunden hat dein Elternhaus zerstört, es ist eingestürzt und hat Vater, Mutter und Bruder unter sich begraben. Alle drei sind tot und wurden gerade verbrannt."

Das ist mehr, als Patacara ertragen kann. Sie verliert den Verstand, reißt die Kleider von sich und läuft klagend und schreiend umher. Die Menschen in Savatthi drehen sich kopfschüttelnd nach ihr um, rufen ihr nach und werfen nach ihr, bis sie an den Rand der Stadt kommt, von wo sie später in das Kloster im Jetahain findet. Der Buddha ist zu dieser Zeit im Gespräch mit einigen seiner Anhänger, als er die verstörte Frau herankommen sieht. Er kann sofort ihren Zustand richtig einschätzen, er weiß aber auch, dass der Geist Patacara gerade jetzt für entscheidende Einsichten offener ist als je zuvor. Vorsichtig ermuntert er sie, sich wieder zu sammeln, zur Besinnung zu kommen und der Realität mutig ins Auge zu schauen. „Das ist nicht das erste Mal, dass du mit derartigen Katastrophen konfrontiert wurdest", sagt der Buddha zu ihr. „In diesem Leben vielleicht, aber im Laufe dieses anfanglosen Daseinskreislaufes hast du derartiges schon unzählige Male durchlitten. Und ein Ende der Erfahrung von Verlust und Trauer ist nicht absehbar, es sei denn ..." Da wird Patacara mit einem Mal die Universalität von Tod und Leiden, Vergänglichkeit und Bedrohung im Leben bewusst. Dem will sie nicht weiter ohnmächtig ausgesetzt sein und ihre Zuflucht kann sie nicht länger in den unbeständigen Dingen sehen. Und zugleich zeigt sich ihr eine viel versprechende und Vertrauen erweckende Alternative. Sie steht gleichsam in der Gestalt des Buddha vor ihr, der sie wieder hoffen lässt.

Auf der Stelle bittet sie ihn, ihr Lehrer zu sein und sie in den Nonnenorden aufzunehmen. Das geschieht, und in der Folgezeit erweist sie sich als eine zielstrebige Schülerin, die sich besonders in den Fragen der Ordensdisziplin auskennt und hervortut. Der Unbedachtheit ihrer Jugend setzt sie von nun an Selbstbeherrschung und Besonnenheit entgegen.

Auch die Unbeständigkeit aller bedingten Erscheinungen beschäftigt sie weiter. Als sie eines Tages während des Monsuns beobachtet, wie die sich sammelnden Regentropfen einer Böschung herabfließen, blitzt es in ihr auf. Sind da nicht Tropfen, die sofort im Erdreich versickern? Und andere, die etwas länger nach unten rieseln und erst dann verschwinden? Und wieder andere, die das Ende des Gefälles erreichen? So wie Patacara einst erlebt hatte, dass ihre Kinder ganz jung, Mann und Bruder im mittleren Alter und die Eltern hochbetagt starben? Aber, geht ihr auf, wie lange deren Lebenspanne auch sein mochte, früher oder später gingen sie doch zu Ende, genau wie jedes dieser Rinnsale vor ihren Augen schließlich doch versiegen musste. Und ähnlich wie bei Kisagotami vollzieht sich der alles vollendende Schritt im Anblick ihrer Öllampe. Sie will sie eines Abends gerade löschen, als im selben Moment alle Fesseln von ihr abfallen. Mit einem tiefen Einblick die Wesenlosigkeit aller Erscheinungen hat sie das höchste Ziel ihrer spirituellen Übung und damit das Ende jeglicher Verletzbarkeit erreicht.


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