Alfred Weil
Die Lehre Buddhas gehört zu den großen Weisheitslehren der Menschheit. Zu Beginn der christlichen Zeitrechnung hatte sie bereits eine 500-jährige Geschichte. Während die „Vier edlen Wahrheiten“ des Erwachten in Asien Millionen von Menschen in ihren Bann geschlagen und ihr Leben verändert haben, sind sie bisher bei uns von eher geringer Bedeutung geblieben. Die erste Begegnung der Europäer mit dem Buddhismus war von Verwunderung, Skepsis und Ablehnung geprägt. Man glaubte die eigene Kultur überlegen. Besonders den „Pessimismus“ des Gotama Buddha, der das Leiden in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte, konnte und wollte man nicht akzeptieren.
Sicher, die „Erste edle Wahrheit“ rückt zunächst die Heil-losigkeit der menschlichen Existenz ins Bewußtsein. In einer Tiefe und Eindringlichkeit, die dem oberflächlich dahinlebenden unverständlich, ja irreal erscheinen muß.
Daß das Leben leidhafte, schmerzliche und unangenehme Seiten hat, gewiß. Aber daß dieses Dasein selbst – und an nichts hängen wir mehr – auch mit seinen Freuden und seinem höchsten Wohl nichts anderes als Leiden ist! Wer könnte und wollte das unvermittelt begreifen? Wer könnte verstehen, daß die fünf Elemente des Erlebens: Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Aktivität und Gewöhnung als solche schon der Inbegriff aller Unzulänglichkeiten sind?
Der Erwachte hat sich stets als großer Menschheitsarzt verstanden, aber er diagnostiziert die Krankheit Existenz nicht nur. Die „Zweite edle Wahrheit“ benennt ihre Ursachen: „Gier“, „Haß“ und „Verblendung“ sind die Bedingungen für alle leidhaften Erfahrungen, die je erlitten wurden oder noch erlitten werden. Verlangen, Abneigung und Illusion sind die Motoren, die den Menschen antreiben und sie im Daseinskreislauf von Wiedergeburt zu Wiedergeburt jagen.
Natürlich weiß ein guter Arzt auch um die Voraussetzungen der Gesundung. Schließlich ist es seine Aufgabe und seine Berufung, den Patienten von seinen Gebrechen zu befreien
Wo bleibt der Pessimismus, wenn in einer Situation der Unvollkommenheit und der Unzulänglichkeit die sichere Hoffnung auf tiefgreifende Veränderung und völlige Überwindung begründet wird? Die „Dritte edle Wahrheit“ des Erwachten zeigt die Alternative, eröffnet eine neue Orientierung, weist auf Befreiung und Erlösung. Sie zeigt, daß mit dem Vergehen von Ich und Welt und mit dem Verlöschen von „Gier“, „Haß“ und „Verblendung“ nichts als Leiden aufhört.
Heil werden muß jeder Patient selbst. Der Mediziner kann erkennen, verordnen, helfen. Aber er kann nicht gesund beten und Wunder vollbringen. Die „Vierte edle Wahrheit“ des Buddha weist die konkreten Schritte, die zu endgültiger und vollständiger Genesung führen. Sein Weg ist der Wandel auf dem „Edlen achtfachen Pfad“, einem vollständigen und praktikablen Übungs- und Lebensprogramm. Rechte Anschauung, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechte Lebensführung, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung gehören zu ihm. Wissen und Weisheit, ethisches Verhalten, Sammlung und Besänftigung sind seine großen Etappen. Erlösung und Leidlosigkeit sein Ziel. Selbstverantwortlichkeit und Selbstbestimmung seine Voraussetzungen. Die Wirksamkeit dieser Therapie hat der Buddha selbst erfahren. Als guter Arzt hat er die empfohlenen Mittel zuerst an sich erprobt, ist durch sie genesen und kann für sie garantieren.
Immer häufiger entdeckt der materialistische Westen in der Spiritualität des Ostens eine Alternative. Er entdeckt: Buddha hat schon von 2500 Jahren die Daseinsbefindlichkeit des Menschen in ihrer vollen Tiefe durchschaut. So, wie sie unabhängig von geographischen und historischen Gegebenheiten ist. Er hat sie in genialer Weise offengelegt, und er hat Auswege gewiesen. Immer mehr Europäer sehen in der Weisheit Buddhas Orientierung für sich selbst, hier und heute. Oft bedarf es nur eines Anstoßes, und tastendes Suchen findet sicheren Grund und Richtung. Einen Beitrag dazu wollen die folgenden Seiten sein. Sie möchten