Alfred Weil
„Was ist da wohl, Herr Gotama, die Ursache, woher kommt es, daß man auch unter den menschlichen Wesen, den als Mensch Geborenen, Elend und Wohlfahrt findet? Denn man sieht ja, Herr Gotama, unter den Menschen kurzlebige und sieht langlebige Menschen. Man sieht Menschen mit Gebrechen und man sieht gesunde. Man sieht unschöne und schöne Menschen. Man sieht dürftige Gemüter und seelisch reiche Menschen. Man sieht besitzlose Menschen und sieht wohlhabende. Man sieht niedrig gestellte und hochgestellte Menschen, man sieht stumpfsinnige und sieht klare Geister. Was ist da wohl, Herr Gotama, die Ursache, woher kommt es, daß man auch unter den menschlichen Wesen, den als Mensch Geborenen, Elend und Wohlfahrt findet?"
„Eigentum des Wirkens, Subha, sind die Wesen, des Wirkens Erben, des Wirkens Kinder, an das Wirken gebunden. Das Wirken ist ihr Betreuer, das Wirken ist es, das die Wesen unterschiedlich werden läßt zwischen elend und gut lebenden."
Eine Frage an den Buddha und eine Antwort - und zugleich eine kurze und prägnante Art und Weise, in das Thema Karma einzuführen. Die wenigen Sätze aus der 135. Lehrrede der Mittleren Sammlung enthalten die gesamte Problematik, um die es geht, und ihre Lösung. Woher kommt unser Erleben? Von unserem Tun! Was bestimmt die Qualität unseres Erlebens? Unser Tun! Karma bezeichnet eine elementare Regel des Lebens: Wie ich jetzt handele, so werde ich erleben; was ich heute erlebe, ist einst als Tat von mir selbst ausgegangen.
Im Kern geht es also um unser Tun und Lassen, um unsere Taten im Denken, Reden und Handeln. Und genau das ist auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes karma (Sanskrit) beziehungsweise kamma (Pali): die Aktivität, die Tätigkeit, das Wirken, das von den Wesen ausgeht. Manche buddhistische Autoren verwenden deshalb den Begriff hauptsächlich in dieser eng(er)en Bedeutung. Doch wie der kurze Dialog schon andeutet, steckt in jedem Wirken auch bereits sein Ergebnis. Jedes Tun hat Folgen, bringt etwas aus sich hervor. So läßt sich Karma ebenso als Resultat des Tuns verstehen, als das Gewirkte. Wir kennen diesen Wortsinn aus Sätzen wie: „Der hat ein schlechtes Karma", wenn jemandem etwas Negatives widerfährt, oder „Sie hat sich damit gutes Karma geschaffen", wenn sich jemand gerade besonders anständig, großzügig oder wohlwollend gezeigt hat. Schließlich gibt es eine dritte Nuance in Bedeutung und Gebrauch des Wortes: Wenn es tatsächlich so ist, daß Aktivitäten zu ganz bestimmten Ergebnissen führen, dann muß dem eine Gesetzmäßigkeit zugrunde liegen. Eine Gesetzmäßigkeit, die den inneren Zusammenhang von Tat und Tatfolge ausmacht: die Wirkung.
So wird uns also bei der Lektüre der Ausdruck Karma immer wieder in seinen drei unterschiedlichen Facetten begegnen: im Sinne dessen, was wir tun, welche Folgen sich daraus ergeben, und nach welchen Regeln diese Ergebnisse zustande kommen. Oder anders ausgedrückt: als Wirken, als Gewirktes und als Wirkung. Der Buddha hat das in seiner oft bildhaften Sprache so verdeutlicht: Es geht um „Saat" (das ist das Tun), „Ernte" (das ist sein Effekt) und das zwischen beiden liegende „Reifen" (das ist das hinter allem stehende Prinzip).
Als spirituelle Wahrheit durchdringt und durchwebt das Karmagesetz die Belehrungen des Erwachten in ganz grundlegender Weise. Wollte man sie davon ausnehmen (was in westlichen buddhistischen Kreisen durchaus schon vorgeschlagen wurde), würde man ein Kernstück der buddhistischen Sicht der Wirklichkeit eliminieren. Eines der Fundamente dieses gewaltigen Gebäudes würde fehlen und es so unweigerlich zum Einsturz bringen.
Sicher, die Karma-Lehre ist keine buddhistische Erfindung, der Buddha selbst hat viele ihrer Elemente bereits vorgefunden. Warum auch nicht, beinhaltet sie doch eine allgültige und zeitlose Wahrheit. Lange vor ihm hatte sie bereits Eingang in das Denken der Inder gefunden und war für viele seiner Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit. Sie prägte weitgehend das Verständnis der Menschen von damals und ihre praktische Lebensorientierung. Der Buddha aber hat diese Lehre vollendet. Er hat sie von falschen Auslegungen befreit, sie in ihrer notwendigen Vollständigkeit aufgezeigt und ihren richtigen Stellenwert für den Weg der Befreiung gewiesen.
Zurecht wird die Lehre von der Bedingten Entstehung (Pali: paticcasamuppada; Sanskrit: pratitya samutpada) als Essenz der Einsichten des Buddha bezeichnet und entsprechend hoch geschätzt. Doch das darf für die Karma-Lehre ganz genauso gelten. Sie ist nämlich nichts anderes als eine Möglichkeit, das Entstehen in Abhängigkeit darzustellen. Wie in anderen Fällen auch erleichtert uns der Erwachte das Verständnis, indem er uns die Wirklichkeit auf ganz unterschiedliche Weisen nahe bringt. Je nach den Gegebenheiten der Situation oder dem Verständnisvermögen der Zuhörer verwendet er eine andere Ebene der Betrachtung und eine andere Sprache. Manchmal ist sie ganz eng angelehnt an unsere alltäglichen Denk- und Erfahrungsgewohnheiten. Dann ist sie anschaulich und auf unser unmittelbares Erleben bezogen. Ein anderes Mal geht sie vom höchstmöglichen Standpunkt der Analyse und Wahrheitssicht aus. Sie hat dann jeden subjektiven Standpunkt und jede (menschliche) Perspektive hinter sich gelassen.
Ein Beispiel macht dies deutlich: Der Erwachte gebraucht ganz selbstverständlich Worte wie Mensch, Person, Ich, Du, Vater, Mutter, Mann, Frau, Königin, Krieger, Brahmanin, Diener usw. Das entspricht der landläufigen Art, die Wirklichkeit um uns wahrzunehmen und zu deuten. Aber genauso verwendet er völlig andere Bezeichnungen. Wo eben noch von konkreten Menschen und Personen die Rede war, geht es nun nur noch abstrakt um die fünf Daseinsfaktoren (Pali: khandha; Sanskrit: skandha) und ihr Zusammenspiel. Vom absoluten Standpunkt aus gesehen gibt es keine Lebewesen oder Dinge. Alles erscheint lediglich als Kombination einzelner Elemente in einem ständigen Wandlungsprozeß. Siddhartha oder Siddhattha, Sariputta oder Shariputra, das sind bloße Namen, wo tatsächlich nur Formen und Gefühle, Wahrnehmungen und Strebungen sowie deren Dynamik zu finden sind.
Mit der Karma-Lehre verhält es sich ganz ähnlich. Wenn der Buddha über sie spricht, bedient er sich einer konventionellen Sprache und Ausdrucksweise, anschaulich und nahe am unmittelbaren Erleben und Empfinden der Menschen. So formuliert läßt sich das Gesetz von Ursache und Wirkung farbig und für jeden faßbar illustrieren. Es spricht unsere Emotionen an und motiviert unmittelbar, dem Leben eine neue Richtung zu geben. Die Bedingte Entstehung beschreibt dasselbe, aber von einem absoluten, letztgültigen und nicht mehr perspektivisch verzerrten Standpunkt aus. Auch hier geht es um das Daseinsgeschehen, aber im Sinne seines universellen und unpersönlichen Charakters.
Wer das Karmagesetz völlig durchschaut, versteht, „was die Welt im Innersten zusammenhält". Ihm wird ersichtlich, wie die „Schicksale" der Menschen reifen; wie die einen gegen ihren bewußten Willen immer tiefer ins Elend geraten und andere Glück und Zufriedenheit erreichen. Er begreift, wie sich die Wesen im Daseinskreislauf ihre Fesseln immer wieder neu schmieden, ohne es auch nur zu ahnen. Er erkennt aber auch, wie sie sich völlig und für immer von ihnen befreien können. Das beinhaltet den Kern und die Einzigartigkeit der buddhistischen Lehre vom Karma. Sie will nicht nur Wege zu einem besseren und erfüllenderen Leben zeigen. Deshalb begnügt sie sich auch nicht mit dem Rat, „Schlechtes zu lassen und Gutes zu tun", wie es andere Religionen und Weltanschauungen überwiegend tun. Sie leitet nicht nur zum richtigen Tun an wie die sonstigen großen Entwürfe von Moral und Ethik. Sie geht am Ende über alles Wirken hinaus und weist so auf das Tor, das in die uneingeschränkte Freiheit führt.
Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge sind drei Themenschwerpunkten zugeordnet. Im ersten Kapitel geht es um die Grundzüge der Karma-Lehre ganz allgemein. Das „Gesetz der erlebten Tat" wird als universelle existentielle Wahrheit erläutert. Dazu gehören auch die Wechselbeziehungen von Karma und Wiedergeburt. Anders als wir es im Westen gewohnt sind, geht der Blick wie selbstverständlich über die Enge „dieses einen Lebens" hinaus und das Dasein wird aus einer ganz anderen und ungleich weiteren (zeitlichen) Dimension heraus erklärt. Tatsächlich wäre vieles an der Wirkungsweise von Karma unverständlich und widerspräche aller Erfahrung, wollte man sie auf nur (diese) eine kurze Lebensspanne beschränken.
Die Texte dieses ersten Teiles wollen vor allem Antworten geben auf zentrale Menschheitsfragen, die spirituell Interessierte seit jeher beschäftigen:
Das zweite Kapitel geht dann näher auf das „Gesetz von Saat und Ernte" ein. Es untersucht den Zusammenhang von Tat und Tatfolge im einzelnen und macht ihn anschaulich. Man könnte sonst vielleicht glauben, daß Betrachtungen über Karma abstrakt bleiben müssen, etwas für philosophische Theorien oder Spekulationen sind, aber nicht im eigenen Leben wiederzufinden. Tatsächlich muß das Karmagesetz als wahr erfahren werden, wenn es mehr sein soll als ein interessantes Dogma.Die einzelnen Beiträge richten ihr Augenmerk auf recht unterschiedliche Teilaspekte, die alle zusammen ein facettenreiches und illustratives Gesamtbild entwerfen. Dabei geht es vornehmlich um die folgenden Punkte:
Immer wieder hat der Buddha betont: Nur eines zeige ich - die Unvollkommenheit des Daseins, wie immer sie sich zeigen mag, sowie ihre Überwindung. Er spricht vom „Leiden" (Pali: dukkha; Sanskrit: duhkha) und dessen Beendigung. Die Lehre des Erwachten ist uneingeschränkt eine Lehre der Befreiung. Sie will nicht den Geist beschäftigen und unterhalten. Wir sollen nicht unablässig über das Karmagesetz nachgrübeln oder bloß Meinungen darüber austauschen. Diese Lehre legt keinen Wert auf ausgefallene Thesen und spitzfindige Argumente. Sie will nicht originell sein, besonders beachtet oder bewundert werden. Ihre Bedeutung liegt ausschließlich in ihren praktischen Konsequenzen und ihrer emanzipatorischen Wirkung.Das dritte Kapitel will dementsprechend Theorie und Praxis näher zusammenbringen. Ich sage näher zusammenbringen, weil es nicht das Hauptanliegen dieses Buches ist, buddhistische Praxis zu beschreiben. Es will das Karmagesetz begreiflich und annehmbar machen, um eben diese Praxis anzustoßen und ihr Richtung und Ziel zu geben. Das letzte Kapitel weist daher mehr in die Zukunft und auf die notwendigen Folgerungen aus dem Vorangegangenen. Es will die Einsichten in „Saat und Ernte" für unser Leben fruchtbar machen und uns ermutigen, die Lehren des Buddha im Alltag anzuwenden. Wie das gehen kann, zeigen eine Reihe leicht verständlicher und nachvollziehbarer Übungen. Hier einige Fragen, die im Schlußkapitel behandelt werden:
Aber die Betrachtungen dieses Abschnittes wenden sich auch den „letzten Dingen" und den höchsten Mitteilungen des Buddha überhaupt zu. Schlechtes zu lassen und Gutes zu tun, lehren alle Religionen. Nur der Buddha rät, letztlich auch darüber hinauszuwachsen und selbst das Gute loszulassen.Wer die Bedingtheit aller Erscheinungen klar sieht, wer erkannt hat, daß sich die Ursachen unseres (Er)Lebens verändern und gestalten lassen, kann bald die Bedingungen schaffen, die sein Leben angenehmer und glücklicher machen. Er ist aber nicht mit dieser relativen und vor allem vergänglichen Wandlung zufrieden. Er hat das höchste Ziel, das höchste Gut im Auge, das der Buddha-Dharma verspricht: das völlige Ende von Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit, das Ende von Unvollkommenheit, das Ende von Dukkha. Das aber ist mit Handeln nicht zu erreichen, auch nicht mit dem besten. Nur wenn der Bereich des Bedingten schlechthin überwunden ist, nur wenn der karmische Prozeß selbst zu Ende geht, gibt es Vollkommenheit.
Es braucht nicht besonders betont zu werden, daß die Zuordnung der Beiträge dieses Buches zu den einzelnen Kapiteln nicht immer zwingend und die Abgrenzung der Themen nicht in jedem Fall trennscharf ist. Das ergibt sich aus der Sache selbst. Die Darstellung von Teilaspekten ist meist nur in ihrem Zusammenhang möglich. Überschneidungen sollten aber nicht bloß als unvermeidlich, sondern als bereichernd empfunden werden. Oft erschließen erst der Wechsel in der Betrachtungsweise, eine andere Sprache und andere Bilder tiefere Einsichten.
Das vorliegende Buch will ein Lesebuch im besten Sinne des Wortes sein. Ein Buch, das eine ganze Fülle sehr unterschiedlicher Beiträge vereint. Nach guter DBU-Tradition heißt das zunächst, daß sich hier Autorinnen und Autoren der verschiedenen buddhistischen Schulen und Traditionen wiederfinden. Vor allem solche, die in der DBU mitarbeiten oder ihr verbunden sind. Manche „große Namen" gehören dazu.
In allen Fällen aber sind (oder waren) die Autoren selbst Buddhistinnen und Buddhisten, für die die Karma-Lehre nicht ein akademisches Thema darstellt. Ihnen geht es nicht um Ansichten, Meinungen oder wissenschaftliche Kontroversen zu einem Gegenstand der indischen Philosophie, sondern um eine zutiefst existentielle Angelegenheit. Sie leben die Lehre, über die sie schreiben, und sie üben und arbeiten nach ihr.
Erfreulicherweise haben sich viele Autorinnen und Autoren bereit gefunden, Originalbeiträge für dieses Buch zu schreiben oder vorhandenes Material aufzuarbeiten bzw. zu übersetzen. Daneben wurden Nachdrucke jüngerer und älterer Texte aufgenommen, die nach wie vor sehr lesenswert sind und nichts an Wahrheitsgehalt verloren haben. Teils wurden sie in ihrer ursprünglichen Form wiedergegeben, teils auch überarbeitet. Auf diese Weise sind Texte von jetzt tätigen buddhistischen Lehrerinnen und Lehrern neben denen von Pionieren und frühen westlichen Interpreten des Buddha-Dharma vereint.
Die Karma-Lehre ist ein elementarer Bestandteil des Buddha-Dharma und deshalb in den Lehrreden und Anleitungen durchweg von großer Bedeutung. Nicht überall aber ist sie gleichermaßen Gegenstand einer systematischen Darstellung geworden. Nicht in allen Schulen wurden die vielen Details ausführlich untersucht und zusammenfassend beschrieben. Im Abhidhamma beispielsweise finden sich sorgfältige Analysen, auf Vollständigkeit zielende Begriffsreihen und Übersichten, während etwa das Zen (wie meist) die situationsbedingte und an der Dharma-Praxis orientierte Belehrung vorzieht.
In den Grundzügen stimmen die Darstellungen der buddhistischen Karma-Lehre überein. Differenzen ergeben sich eher bei Randfragen oder Details. Die Gründe dafür sind unterschiedliche Auffassungen in der Sache, aber auch oft nur eine andersartige Denkweise. Ich möchte einige wenige Beispiele anführen.
Eine wichtige in der Literatur nicht eindeutig beantwortete Frage ist, ob alle unsere Erlebnisse karmisch bedingt sind oder nicht. Nach dem Abhidhamma beispielsweise ist Karma nicht das Gesetz der Konditionalität im allgemeinen, sondern nur, soweit es auf der Stufe der moralischen Verantwortung wirkt. Infolgedessen ist nicht alles, was uns widerfährt, zwangsläufig das Resultat unseres früheren Wirkens. Andere Autoren kommen dagegen zu dem Ergebnis, daß die karmische Bedingtheit der Ereignisse umfassend ist.
Hier ist nicht der Ort, dieser Frage weiter nachzugehen oder sie gar zu entscheiden. Doch macht sie (wie die folgenden) deutlich, daß und wo noch Klärungsbedarf besteht. Dabei muß das Ergebnis einer weiteren Untersuchung keineswegs ein Entweder-Oder sein. Beide Positionen müssen sich nicht ausschließen. So ist es durchaus denkbar, daß eine höhere Ebene der Konditionalität die jeweils niedrigeren umfaßt. Gewiß, ein Stein kann nicht moralisch handeln, und was mit ihm geschieht, unterliegt den Gesetzen der Physik und der Chemie. Ganz anders beim Menschen mit seinen Fähigkeiten zu Ethik und Moral: Auch sein Körper gehorcht den Naturgesetzen. Aber wieweit? Völlig? Nein, denn auch das Physische wird bei ihm durch das Psychische beeinflußt. Noch deutlicher wird dieser Sachverhalt bei einem spirituell sehr hochstehenden Wesen, das die „Naturgesetze" geradezu „außer Kraft" zu setzen vermag.
Den Menschen heute fällt es schwer, sich Fortexistenz und Wiedergeburt vorzustellen - zumal Wiedergeburt ohne einen festen Wesenskern oder ein unwandelbares und bleibendes Ich. In den Texten darüber gibt es zwei unterschiedliche Deutungen. Manche beschreiben Tod und Fortexistenz unter dem Gesichtspunkt von bloßen Konditionalitäten, aus denen die jeweils neuen Lebenserscheinungen entstehen, und zwar ohne daß etwas Substanzhaftes oder Materielles von der einen Existenz in die nächste übergeht. Sie wollen sich so von (irreführenden) Anschauungen absetzen, die in vielen Religionen eine große Rolle spielen und ein (im Kern unangetastetes) personales Weiterbestehen unterstellen. Dem steht eine Konzeption gegenüber, die mehr die Kontinuität des (subjektiven) Erlebens im Tode und über ihn hinaus herausstellt. Der Sterbende erlebt keineswegs seine Vernichtung oder das Ende seiner bisherigen Persönlichkeit, sondern vielmehr deren Weiterbestehen unter anderen Bedingungen. Fortexistenz ist danach Wandel und Kontinuität zugleich.
Eine Entscheidung für die eine oder gegen die andere Alternative bleibt uns auch in diesem Fall erspart. Bereits der Blick auf unser jetziges Leben zeigt, daß beide Sichtweisen ihre Berechtigung haben und ihnen nur unterschiedliche Ebenen der Wahrheit zugrunde liegen. Wie sich das Dasein ganz allgemein (abstrakt) als „Bedingtes Entstehen" und (anschaulich) als karmisches Geschehen beschreiben läßt, so auch Tod und Fortexistenz. Vom absoluten Standpunkt aus gesehen gibt es schon jetzt keine „Person", die handelt und die Früchte ihres Karma erfährt, sondern lediglich das Spiel der fünf Daseinsfaktoren. Wie sollte ein solches „Ich" über den Tod hinaus bestehen? Dennoch läßt eine beschränkte, verblendete Wahrnehmung jeden von uns sich selbst als personale Einheit erleben - auch nach dem Tod. Auch dann bleibt also die (subjektive) Erfahrung von „Ich" und „Welt", Handeln und Erleben, Glück und Leid.
Wer sich das Wesen des Karmagesetzes bewußt macht, kann ohne große Mühen viele der anderen (scheinbaren) Ungereimtheiten und (vermeintlichen) Widersprüche ausräumen. Zwei weitere kleine Beispiele zum Schluß. Gelegentlich wird man lesen, daß Karma nichts mit „Lohn und Strafe" zu tun hat. Das stimmt insofern, als es keine strafende Instanz gibt, die über eine unmoralische Handlung urteilt und Vergeltungsmaßnahmen festlegt. Die üble Tat selbst bedingt ein negatives Ergebnis, und hier unterscheiden sich Buddhismus und Christentum deutlich. Trotzdem sprechen andere Autorinnen und Autoren durchaus von „Lohn und Strafe" - und das mit demselben Recht. Warum soll man diese vertrauten Begriffe nicht als Bilder oder Analogien verwenden, wenn dadurch die Daseinsgesetzlichkeit von Ursache und Wirkung leichter verständlich wird? Wer etwas Schlimmes tut, wird dadurch „bestraft", daß er für die Folgen einstehen muß. Und ein anderer wird „belohnt", wenn er sich nichts zuschulden kommen läßt oder sich zu seinem Vorteil verhält.
Mit „ja" und mit „nein" kann auch die Frage nach einem kollektiven Karma beantwortet werden kann. Mit „nein", weil Aktivität immer etwas „Individuelles", von einem bestimmten Bezugspunkt Ausgehendes ist, an dem sich auch die Resultate festmachen werden. Jeder ist für „sein" Karma verantwortlich und trägt „persönlich" die Folgen. Wer wollte sich aber gegen die Tatsache aussprechen, daß es auch Kollektives, Gemeinsames, Übereinstimmendes gibt, wenn statt des Besonderen mehr das Ganze im Blick ist? Wenn ein Volk einen Krieg erleben muß, dann ist das sein kollektives Karma. Doch können wir andererseits sicher sein, daß in diesem Krieg jeder etwas anderes erlebt. Alle erleben die Auseinandersetzungen als solche, doch der eine wird verwundet, verliert sein Hab und Gut oder kommt gar ums Leben, während der Nachbar unversehrt davonkommt und vielleicht überdies ein Kriegsgewinnler ist.
Alles in allem gibt die vorliegende Textsammlung nur einen ersten Einblick. Sie stellt die Karma-Lehre weder systematisch dar, noch behandelt sie alle Aspekte. An vielen Stellen bleiben Fragen unbeantwortet, und neue kommen hinzu. Dieses Buch kann aber eine Basis für ein vertiefendes Studium sein. Noch mehr aber will es ein Ansporn sein, die Lehren des Buddha insgesamt kennenzulernen und sie als großartige Chance zu begreifen.