Alfred Weil
Zwei Dinge konfrontieren uns mit dem Tod: die Aussicht der eigenen (körperlichen) Vernichtung und das Sterben anderer. Der eigene Tod berührt, belastet und ängstigt uns nur als Vorstellung oder geistige Vorwegnahme eines im Grunde unvorstellbaren Erlebnisses. Der Tod anderer dagegen wird zumindest gelegentlich unmittelbare Erfahrung. In einem Fall mag man stummer Zeuge sein, im anderen direkt Beteiligter, Angehöriger oder Nahestehender.
Darum soll es im folgenden gehen: ob die „Begleiter im Sterben" für ihre schwierige Aufgabe gerüstet sind und wie sie diese bewältigen - oder ob sie selbst der Hilfe bedürfen. Gelingt es ihnen, eine Atmosphäre der Ruhe und der Würde zu schaffen oder eine solche der Bedrückung und Lähmung? Gelingt es, den emotionalen Bedürfnissen des Sterbenden Rechnung zu tragen, oder stehen eigene Trauer und Verzweiflung im Mittelpunkt? Wird das Sterben bewußt und mit klarem Wissen erlebt oder als etwas Unbegreifliches, dem man verwirrt und ohnmächtig gegenübersteht? Kann der Tod gar als eine Situation des Lernens verstanden und als Chance ergriffen werden?
Es sollen mit den folgenden Zeilen vier charakteristische Beispiele skizziert werden, die sich im buddhistischen Pali-Kanon finden. Vier Schlaglichter, in denen sich Menschlich-Allzumenschliches und Überlegenes widerspiegelt, Alltagssicht und Weisheit, Hilflosigkeit und Kraft, Verzweiflung und Zuversicht.
Verständliche und uns allzu nahe, aus der weisheitlichen Sichtweise eines Erwachten aber dennoch unangemessene Züge finden wir in dem mythologischen Bericht über die Königin Subhadda, deren Gatte im Ster¬ben liegt. Sie sträubt sich gegen den Gedanken, daß ihr geliebter Mann Sudassano von ihr gehen wird. Zu groß scheint ihr der Verlust. Mit allen Mitteln versucht sie, seine Gedanken noch einmal auf das Leben mit seinen angenehmen Seiten und Freuden zu lenken - in der Hoffnung, der Lebenswille des Mannes könnte gestärkt werden, er selbst würde dadurch neue Kraft gewinnen und weiter am Leben bleiben. ‘Die Welt ist zum Genießen da, und genießen soll man sie, solange es geht', meint sie offenbar. Und so malt sie ein verlockendes Bild der Freude an Besitz und Reichtum:
„Sieh', o König, du hast da vierundachtzigtausend Städte mit Kusavati der Königsburg als erster: daran erquicke den Willen, am Leben laß' dir gelegen sein! Sieh', du hast da vierundachtzigtausend Paläste mit dem ‘Dhamma-Palast' als erstem: daran erquicke den Willen, am Leben laß' dir gelegen sein! Sieh', du hast da vierundachtzigtausend Erkerhallen mit der großen Empfangshalle als erster: daran erquicke den Willen, am Leben laß' dir gelegen sein!" (D 17, in Anlehnung an Neumann)Es folgen in der Aufzählung die Ruhebetten des Königs, seine Elefanten und Pferde, die Wagen und Juwelen, seine Frauen, Ratgeber und Untergebene, das Vieh, Speicher mit Kleidern und allerlei Gebrauchsgegenständen. Sie sollen den Geist des Mannes gewinnen.Sterben heißt Abschied nehmen von allem Materiellen und Gewohnten: von Besitz, den Mitmenschen und schließlich vom eigenen Körper. Noch in diesem Moment seine Begehrlichkeit und Wünsche auf die Sinnesobjekte zu richten, hieße, sich den Tod schwer zu machen in dem verzweifelten Versuch festzuhalten, was schließlich doch schwinden muß. Wie könnten da die Worte Subhaddas hilfreich sein?
Aber der sterbende Sudassano läßt sich davon nicht mehr fesseln, sein Blick ist auf anderes gerichtet und er weist das Ansinnen seiner Frau zurück. Mehr noch, er ist es, der sie belehrt und zu tieferer Einsicht bringt.
„Lange hindurch, Königin, bist du mir auf erwünschte, liebreiche, angenehme Art entgegengekommen: und nun kommst du mir in der letzten Stunde auf unerwünschte, lieblose, unangenehme Art entgegen."
„Wie, sagst du, König, komm' ich Dir entgegen?"
„So komme du mir entgegen: ‘Eben alles, was einem lieb und angenehm ist, muß verschieden werden, aus werden, anders werden. Laß' dir im Sterben nichts am Leben gelegen sein: schwer stirbt wer am Leben hängt; nicht gut geheißen wird der Tod eines solchen. Sieh', du hast da vierundachtzigtausend Städte, mit Kusavati der Königsburg als erster: davon wend' ab den Willen, laß' dir am Leben nichts gelegen sein. Sieh', du hast da alle diese vierundachtzigtausendfachen Schätze: davon wend' ab den Willen, laß' dir am Leben nichts gelegen sein.'" (a.a.O.)
Eine ganz andere Situation erleben wir bei Nakulapita und Nakulamata, deren Ehe in der buddhistischen Tradition als Beispiel einer makellosen Lebensgemeinschaft bis zuletzt gilt. Nakulapita ist akut von einer tödlichen Krankheit bedroht (die er am Ende aber überlebt). Nakulamata, seine Frau, hat im Gegensatz zu Subhadda keinerlei selbstsüchtige und egoistische Motive, die sie in der vermeintlichen Sterbe¬stunde ihres Mannes in ihrer Weisheit irre machen. Und sie weiß, daß ihrem Mann keine verlangenden Gedanken oder weltliches Sehnen den Abschied vom Leben schwer machen könnten, allenfalls die Sorge um das Wohlergehen der zurückgelassenen Frau. Deshalb versucht sie, ihn zu beruhigen.
„Möchtest du doch nicht voller Sorgen dahinscheiden! Qualvoll stirbt man, wenn man voller Sorgen ist. Getadelt hat der Erhabene den sorgenvollen Tod. Vielleicht denkst du: ‘Nakulamata wird nach meinem Tode nicht imstande sein, die Kinder zu ernähren und den Haushalt weiterzuführen.' Doch das darfst du nicht denken. Denn ich verstehe mich darauf, Baumwolle zu spinnen und Wolle zu verarbeiten, und dadurch bin ich wohl imstande, die Kinder zu ernähren und den Haushalt weiterzuführen. Mögest du daher nicht voller Sorgen dahinscheiden! Qualvoll stirbt man, wenn man voller Sorgen ist. Getadelt hat der Erhabene den sorgen¬vollen Tod." (A VI,16, in Anlehnung an Nyanatiloka/Nyanaponika)
Um ihrem Mann ein von Ungewißheit freies Sterben zu ermöglichen und um zu verhindern, daß sich Nakulapita aus Beunruhigung innerlich nur schwer von seinem jetzigen Dasein lösen kann, erinnert sie ihn noch einmal an ihre Lebenserfahrung und ihre Lebenstüchtigkeit. Er braucht keine materielle Not für seine Frau zu befürchten, auch keine Gefährdung ihres spirituellen Fortkommens. Ihre moralische Integrität ist unantastbar, ihre seelische Ausgeglichenheit stabil und ihre geistige Orientierung in der Lehre des Erhabenen gefestigt:
„Vielleicht aber denkst du: ‘Nakulamata hat in dieser Lehre und Ordnung noch keinen festen Fuß gefaßt, keinen Halt und Trost gefunden; ist noch nicht dem Zweifel und der Ungewißheit entronnen, ist noch ohne Selbstvertrauen, noch nicht unabhängig von anderen in des Meisters Anweisung.' Doch das darfst du nicht glauben..." (a.a.O.)
Die Hilfe auf dem Sterbelager ist der letzte Dienst, der einem Menschen zuteil werden kann und ein sehr wichtiger zumal. Können doch diese Minuten auch mitentscheiden, wie der „Übergang" verläuft und wie es „drüben" weitergeht. Wenn bei Sudassano und Nakulapita jeweils die gemütsmäßige, emotionale Loslösung von allem Bisherigen und Diesseitigen im Vordergrund stand und Unterstützung und Ermutigung bei der Transzendierung, lernen wir nun einen weiteren Aspekt kennen: die Führung zu Höherem und Erhabenerem ‘danach'.
Wohl führte die Priesterkaste zu Zeiten des Buddha die Worte „Brahma" und „brahmische Welt" dauernd im Munde, aber ein brahmisches Leben führte sie dadurch noch keineswegs. Im Laufe der Jahrhunderte waren tieferes religiöses Wissen und eine entsprechende religiöse Praxis verloren gegangen, die in ihnen zu Lebzeiten göttliche Wesensart hätten entfalten können. Ihnen blieben nur noch die ausgefeilten Rituale, die großen Opferfeste und die Hoffnung, mit ihrer Hilfe jenseits des Todes in brahmische Welt aufzusteigen.
Das trifft auch auf den schwerkranken Priester Dhananjani zu, der seine letzten Stunden vor sich hat. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie des Schicksals, daß er als Brahmane ausgerechnet Sariputto, einen Mönch des Buddha, fragen muß, welcher Weg denn zu Brahma führt. Sariputto allerdings kennt ihn, weil er um die karmischen Gesetze weiß und um die Weise des Wiedererscheinens der Wesen nach ihrer jeweiligen Gemütsart. Wer nach dem Tod in der Welt der Brahmagötter wiedergeboren zu werden wünscht, hat zu Lebzeiten eine entsprechende Gemütsart zu entwickeln oder sich wenigstens in der Todesstunde zu ihr aufzuschwingen. So kann der Rat Sariputtos an Dhananjani nur sein, die vier „göttlichen Verweilungszustände" in sich zu entfalten und seine Wesensart fest in Güte, Mitempfinden, Mitfreude und Gleichmut zu gründen.
Den Weg, Dhananjani, der zu Brahma führt, werd' ich Dir zeigen: hör' es und achte wohl auf meine Rede."
„Ja, Herr!", erwiderte da aufmerksam Dhananjani der Priester dem ehrwürdigen Sariputto. Der ehrwürdige Sariputto sprach also:
„Was ist das also, Dhananjani, für ein Weg, der zu Brahma führt? Da strahlt ein Mönch liebevollen Gemütes weilend nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt mit liebevollem Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem. Das ist der Weg, der zu Brahma führt. Weiter sodann: erbarmenden Gemütes, freudevollen Gemütes, unbewegten Gemütes weilend strahlt ein Mönch nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt..." (M 97, in Anlehnung an Neumann)
Der Brahmane beherzigt den Rat und zieht aus ihm besten Gewinn. Kaum hat ihn Sariputto verlassen, stirbt er, und sein erhobenes Gemüt läßt ihn unmittelbar in brahmischer Welt wiedererstehen.
Sariputto ist es auch, der Anathapindiko in den letzten Stunden beisteht. Der Kaufmann Anathapindiko ist seit vielen Jahren Anhänger des Buddha und als großzügiger Spender und Unterstützer des Ordens bekannt. Nun ist der Stifter des berühmten Jetahain-Klosters in Savatthi dem Tod nahe. Trotz heftigster Schmerzen bedarf er auf dem Sterbelager aber nicht so sehr der moralischen Unterstützung. Sein Körper liegt von Krankheit gequält danieder, doch sein Gemüt ist ruhig, und vor allem, sein Geist ist klar. Das erkennt Sariputto und er nutzt die Sterbestunde, um dem Kaufmann eine letzte und sehr weitreichende Lehrdarlegung und Übungsanweisung zu geben, die sonst nur an fortgeschrittene Mönche gerichtet wird.
„Da hast du dich denn also zu üben: ‘Keiner Form werd' ich anhangen, und keiner Form verbunden sein wird mein Bewußtsein': also hast du dich wohl zu üben. Da hast du dich denn also zu üben: ‘Keinem Tone werd' ich anhangen, und keinem Tone verbunden sein wird mein Bewußtsein'... ‘Keinem riechbaren, keinem schmeckbaren oder tastbaren Gegenstand und keinem Gedanken werd' ich anhangen, und keinem riechbaren, schmeckbaren oder tastbaren Gegenstand und keinem Gedanken verbunden sein wird mein Bewußtsein'..." (M 143, in Anlehnung an Neumann)
Detailliert und vollständig umreißt Sariputto alle Elemente der Welterscheinungen, an denen die Wesen haften können und die damit zu Fesseln werden. Er lenkt den Geist Anathapindikos auf ihre völlige Durchschauung und die Notwendigkeit des Loslassens. Nichts im gesamten Samsaro ist von Dauer, ruft er in Erinnerung, alles erweist sich als unbeständig und damit als nicht tatsächlich erfüllend. Wie könnte etwas wirklich Lohnendes darunter zu finden sein?
In seinem Innersten berührt erlangt Anathapindiko tiefe Einsicht in die Natur der Dinge. Die Todesstunde wird für ihn zur Chance weisen Erkennens und nicht alltäglicher geistiger Klarheit. Und Sariputto, der Begleiter seines Sterbens, ermöglicht sie ihm. Bald darauf stirbt Anathapindiko, um in „erhabener Himmelswelt" wiederzukehren.
Es ist offensichtlich: Das Verhalten der Zurückbleibenden den Sterbenden gegenüber, ihre Gefühle, Motive und Gedanken sind Gradmesser für ihre realistische oder noch illusionäre, verblendete Sicht der Existenz. Sie zeigen, ob und wie sehr sie selbst noch am Dasein haften. Sie geben Auskunft über vergebliches Dürsten nach Dasein, nach Erleben und Sinneskontakten oder den Grad der Einsicht in die Vergänglichkeit, die Unzulänglichkeit und Substanzlosigkeit alles Gewordenen. Und eben daraus resultiert ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit, dem Sterbenden in seiner letzten Stunde zu helfen.