Alfred Weil
Sie haben einen hohen Stellenwert: die sinnlichen Genüsse. Wie viel Zeit und Mühe wenden wir auf, um sie zu bekommen, sie zu vermehren und zu erhalten. Für viele Menschen sind sie Lebenszweck schlechthin, andere sehen ihre Begrenztheit und ihr Ungenügen – aber nur wenige erkennen sie als ein selbstgewähltes Gefängnis.
Unermüdlich hat der Buddha das Wesen der Welt der Sinneswünsche und Sinnesobjekte erklärt. Er hat gezeigt, wie man sich in ihr zurechtfindet, Stolpersteine umgeht – und sie schließlich ganz hinter sich lässt, weil es unvergleichlich Besseres gibt.
Diese wenigen Sätze anlässlich eines Vortrages skizzieren den Inhalt dieses Buches. Es gilt, sie weiter auszuführen und anschaulich zu machen. Im ersten Kapitel möchte ich einen allgemeinen Überblick über das Thema geben: Womit haben wir es zu tun, wenn wir über Sinnesfreude und die Welt der Wünsche sprechen? Was ist da bemerkenswert oder gar fragwürdig? In den dann folgenden Kapiteln werde ich den Buddha ausführlicher zu Wort kommen lassen und ausgesuchte Lehrreden vorstellen, die die einzelnen Aspekte des Themas näher beleuchten. Die Wege, von Wünschen zur Wunscherfüllung zu kommen, sollen zunächst erkundet werden. Es folgt eine nüchterne Bilanz: Was ist wirklich dran an den Sinnesfreuden? Halten sie das, was sie versprechen? Dass es überzeugende Alternativen gibt und wie sie aussehen, sollen die beiden nächsten Abschnitte zeigen. Hier werden wir aber sehen, dass der Weg „über die Sinnesdinge hinaus“ für Menschen mit einer bürgerlichen Lebensweise ganz anders aussieht als etwa für Mönche und Nonnen. Mit einigen Überlegungen zu der tieferen existenziellen Bedeutung von Sinnlichkeit schließt das Buch.
Um uns unserem Thema zu nähern, stellen wir uns einmal folgende Szene vor: Ein Bus mit einer Reisegruppe hält mitten im Trubel einer sehenswerten Stadt. Die Reisenden steigen am Marktplatz aus und haben eine halbe Stunde Zeit. Sie können sie nutzen, ganz wie sie möchten, und wir beobachten sie dabei.
Die ersten stürzen eilig aus dem Fahrzeug. Sie wollen sich nach der langen Anreise endlich wieder etwas bewegen und die Beine vertreten. Oder sie fühlen einen ziemlichen Hunger, den sie möglichst bald stillen wollen. Andere müssen schon länger auf ein stilles Örtchen und sehen sich hastig nach einem solchen um. Wieder andere sind vor dem Bus stehen geblieben, unterhalten sich miteinander und sind einfach fröhlich beieinander. Vielleicht sprechen sie auch einheimische Passanten an und fragen sie etwas.
Eine kleinere Gruppe dagegen ist inzwischen in das nächste Touristen-Informationsbüro geeilt oder in einen Buchladen, um sich schlau zu machen: Was lässt sich über diese Stadt erfahren? Welche Kunstschätze oder andere Sehenswürdigkeiten sind hier zu bestaunen? Was kann ich über die Geschichte der Region oder die aktuelle Lage erfahren? Ach, da drüben ist ja eine gotische Kirche, entdeckt ein Paar. Die beiden gehen hinein, genießen die Stille und kommen nach der anstrengenden Tour ein bisschen zur Ruhe.
Und dann gibt es diejenigen, die ohne Zögern in das nächste Café eilen und sich einen Latte Macchiato und eine Himbeertorte bestellen. Danach steht das erstbeste Kaufhaus auf dem Programm: Was findet sich hier wohl an Spezialitäten, welche Mitbringsel könnte ich für Zuhause ergattern? Zwischendurch hört man dem Straßenmusikanten zu, der das Publikum an einer Ecke auf sich aufmerksam macht.
Lässt man die gesamte Szenerie vor seinem geistigen Auge vorüberziehen, wird man vermutlich denken: Das sind doch selbstverständliche Dinge, das macht doch jeder irgendwie. Vielleicht steht das eine bei uns persönlich mehr im Vordergrund als das andere, aber ansonsten wird man nichts Außergewöhnliches an der Schilderung finden. Hier werden einfach menschliche Bedürfnisse und Anliegen gezeigt.
Versuchen wir zunächst, die Vielfalt dieser Aktivitäten und ihre Hintergründe in eine gewisse Ordnung zu bringen. Die erste Einsicht ist recht banal: Der Mensch hat elementare körperliche Bedürfnisse. Er bedarf der Ernährung, er braucht Kleidung, eine Wohnung und Medizin, wenn er krank ist. Außerdem hat er soziale Bedürfnisse. Er fühlt den Drang, anderen Menschen zu begegnen und mit ihnen zu kommunizieren. Er sucht Beachtung, Anerkennung und Wertschätzung, möchte sich aussprechen und austauschen. Des Weiteren befinden sich unter unseren Reisenden solche mit ausgeprägt geistigen Anliegen. Sie möchten sich in ihrem Leben orientieren, Information und Wissen sind ihnen wichtig – für Beruf oder Freizeit. Sie interessieren sich für Politik oder Wissenschaft, Kunst oder Religion und manches mehr.
Nun kommen wir zu dem Punkt, der uns besonders interessiert: dem verbreiteten Wunsch, das Leben und die tausend Dinge dieser Welt zu genießen. Wer möchte nicht die Vielfalt des Daseins erleben, sich über das freuen, was ihm die fünf Sinne bieten? Wir wollen Dinge besitzen und Spaß an ihnen haben, wir begehren sie und greifen nach ihnen. Diese Tatsache drückt der Buddha mit dem Wort kāma¹ aus. Mit seiner zweifachen Bedeutung umfasst es unsere sinnlichen Wünsche und Freuden einerseits wie die äußeren Objekte der Befriedigung andererseits.
„Das gehört zum Leben“, kommt uns in den Sinn. Manchem vielleicht gar: „Freude zu haben, ist doch sein Hauptinhalt, sein eigentlicher Zweck. Ich bin doch da und strenge mich an, um es schön zu haben.“ Doch gibt es auch andere Stimmen, die dem wenigstens nicht vorbehaltlos zustimmen. Einschränkend sagen sie: „Das stimmt schon, aber man muss sich dabei in bestimmten Bahnen bewegen und darf nicht über die Stränge schlagen.“ Sie plädieren also für das rechte Maß, und sie empfehlen aufzuhören, „wenn es genug ist“. Andererseits finden wir in den Religionen warnende Stimme mit besonderem Gewicht: „Achtung, vermintes Gebiet!“, lautet ihre Botschaft, und sie ist ganz generell gemeint: Wie schnell geraten wir mit der Sinnlichkeit in eine Gefahrenzone und merken es erst, wenn es zu spät ist.
Die erste Einschränkung ist erkennbar berechtigt. Dort nämlich, wo übermäßige sinnliche Bedürftigkeit das menschliche Zusammenleben nachhaltig stört, in kriminelle Verhaltensweisen umschlägt oder gar zu gewaltsamen Handlungen führt. Die andere ist mehr psychologischer und existenzieller Natur und weitaus schwerer auszumachen. Ich meine die Abhängigkeit der menschlichen Psyche von materiellen Objekten und die Unfähigkeit, in sich selbst Glück und Erfüllung zu finden.
In einem Sonett, das William Shakespeare vor rund 400 Jahren verfasst hat, kommt das zum Ausdruck. Shakespeare war ein großer Kenner der menschlichen Seele, und er hat das Un-Heil im Umfeld der Sinnlichkeit in eine dichterische Sprache gefasst.
Geübte Wollust ist des Geists Verschwendung
an wüste Schmach; Wollust ist bis zur Tat
meineidig, mörderisch, blutig, voll Verblendung,
ausschweifend, wild, roh, grausam, voll Verrat.
Genossen kaum, verachtet allsogleich,
sinnlos erjagt und, wenn ihr Ziel errungen,
sinnlos gehasst, dem gift’gen Köder gleich,
gelegt, um toll zu machen, wenn verschlungen.
Toll im Begehren, toll auch im Genuss
gehabt, erlangt, verlangend, ohne Zaum;
im Kosten Glück, gekostet Überdruss,
im Anfang Seligkeit, nachher ein Traum,
das weiß die Welt, doch niemand weiß zu meiden
den Himmelspfad zu solchen Höllenleiden.
(William Shakespeare – Sonett 129)
Was der große Dramatiker aber im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert nicht ahnen konnte: in welchem Maß sich sinnliches Begehren in kommenden Zeiten noch steigern wird und wie explosionsartig sich die möglichen Objekte der Sinnesbefriedigung vermehren. Ich will mit wenigen Beispielen verdeutlichen, in welcher „ver-rückten“ Lebenssituation wir uns heute vorfinden.
Musik ist Teil der menschlichen Kultur. Man lässt sich gerne von angenehmen Klängen inspirieren und erheitern, und stets stand Interessierten ein mehr oder weniger breites Repertoire an Liedern oder Instrumentalstücken zur Verfügung. Wie aber steht es heute um Angebot und Nachfrage? Man reibt sich verwundert die Augen. Ein großer Anbieter lädt zu einem erschwinglichen Abonnement ein. Wenn es mir zusagt, kann ich rund 50 Millionen Songs herunterladen und sie nach Belieben oft hören. Nehmen wir einmal für jedes Musikstück eine Dauer von drei Minuten an. Dann könnte oder müsste ich 285 Jahre Tag und Nacht zuhören, um das gesamte Angebot wenigstens einmal genossen zu haben. Erst jetzt wüsste ich, was meine Lieblingslieder sind, um mich ihnen verstärkt hingeben zu können. Ganz abgesehen davon, dass nach den genannten 285 Jahren vermutlich noch 100 Millionen Titel dazugekommen sind.
Zweites Beispiel: geschmackvolles Essen, ein Herzstück des sinnlichen Genusses in einer Wohlstandgesellschaft. Ich habe neulich eine interessante Zahl gehört. Da verkündete ein Ernährungswissenschaftler, dass in den bundesdeutschen Regalen derzeit rund 170.000 verschiedene Lebensmittel zu kaufen sind. Sicher sind viele für unsere Ernährung notwendig, und sie mögen auch gesund sein. Die ungeheure Angebotsvielfalt indessen zielt vor allem auf die Befriedigung immer differenzierter werdender sinnlicher Bedürfnisse. Sie hat mehr mit Gaumenfreuden zu tun als mit der Erhaltung des Körpers.
Wir ahnen vielleicht schon, auf welche Dimensionen wir uns heute zubewegen. Anlässe zum Staunen gibt es genug. Ich musste jedenfalls einige Male einen Prospekt ansehen, um zu glauben, was da in Aussicht gestellt wurde. Es ging um Müsli, ein an sich gesundes und nahrhaftes Produkt. Aber jene Firma pries nicht nur mit Überzeugung die Qualität ihres Erzeugnisses – vielleicht in ein paar unterschiedlichen Varianten. Sie versprach dem Käufer mehr als nur satt zu werden und fit zu bleiben. Sie machte jedem das Angebot, sein ganz individuelles Bio-Müsli zusammenstellen – und den Vorschlag, unter 566 Billiarden Möglichkeiten einen leckeren Frühstücksbrei zusammenzustellen. Beim Ausrechnen habe ich mir helfen lassen, um ja sicher zu gehen. Herausgekommen ist das Folgende: Du musst 1,55 Billiarden Jahre jeden Tag ein Müsli ausprobieren, bis du weißt, welches dir am besten schmeckt!
Die Schieflage wird erkennbar, in die wir als Individuen und als Gesellschaft schon längst geraten sind. Und die Rechnung kann nicht aufgehen: durch immer differenziertere Angebote immer weiter ausufernde Bedürfnisse zu befriedigen. Weiterblickende haben zu allen Zeiten gesehen, dass Vielfalt keine Lösung darstellt, sondern das eigentliche Problem ist.
Der Buddha hat zu dem gesamten Themenkomplex viel Erhellendes beigetragen und eine deutliche Sprache gesprochen. Er sagte aber nicht nur: Vorsicht, mit der Sinnesvielfalt betreten wir ein Risikogebiet. Aufgrund seiner tiefen Einsicht in die Realität ging er noch viel weiter und kam zu dem Schluss: Letztendlich befinden wir uns in der Welt der Sinnlichkeit generell in einer unheilsamen Zone. Wer sich von solchen Genüssen angezogen und sich bei ihnen zu Hause fühlt, lebt fern seiner eigentlichen Heimat und gefährlich dazu. Das wird nun nicht jedem unmittelbar einleuchten, aber der Erwachte machte auf überzeugende Weise auch deutlich, warum das so ist – und glücklicherweise, wie man dabei mit heiler Haut davonkommt.
Zum Schluss der kurzen Einführung möchte ich noch einmal auf unseren gefeierten englischen Dichter zurückkommen, der in den Schlusszeilen seines Gedichtes ja zu folgendem Resümee gefunden hat:
Das weiß die Welt, doch niemand weiß zu meiden
den Himmelspfad zu solchen Höllenleiden.
Hier irrt William Shakespeare allerdings. Er hat die Tragik der Sinnesfixiertheit in weiten Teilen geahnt und treffend beschrieben, aber er kannte natürlich die Lehre des Buddha nicht. Das war sein Pech und das vieler damals und heute. Denn der Buddha weiß, wie man diesen Himmelspfad zu Höllenleiden vermeiden kann, und gerade auch diesem Thema gelten die folgenden Seiten.
Es wird darum gehen, unsere Lebenssituation genauer zu beschreiben und zu verstehen. Dabei sollen die folgenden Leitfragen zur Orientierung dienen: Was sind Sinneswünsche eigentlich, und wie entstehen sie? Wie und wieweit lassen sie sich befriedigen? Worin bestehen ihre Schattenseiten, beziehungsweise was macht sie zu einem Gefängnis? Gibt es eine Freiheit von kāma, und wie sieht sie aus? Und schließlich: Wie komme ich denn ins Freie – und das am besten für immer?
Anmerkung
1) Das Pāli-Wort kāma darf nicht mit dem ähnlich klingenden und vielen eher vertrauten Wort kamma (karma im Sanskrit) verwechselt werden. Mit kamma ist die Daseinsgesetzlichkeit gemeint, nach der man nur das erleben kann, was zuvor als Handlung von einem ausgegangen ist: Was man sät, wird man ernten.