Alfred Weil
Schon vor vielen Jahrzehnten hat der Buddha-Dharma seinen Weg in den Westen gefunden. Mit welchem Ergebnis? Ist er ein exotisches Einsprengsel in einem von Christentum und Aufklärung geprägten Umfeld geblieben oder ist er – wenigstens ein Stück weit – heimisch geworden? Und welche Zukunft hat er?
‚Einheit in der Vielfalt – Buddhismus in Europa‘, so lautete das Motto des Kongresses der Europäischen Buddhistischen Union (EBU), der vom 24.-27.9.1992 im Ostteil Berlins stattfand und dessen Ausrichtung die Deutsche Buddhistische Union (DBU) übernahm. In diesen vier Tagen sollten eine Bestandsaufnahme begonnen und Antworten auf viele Fragen gegeben werden. Wie zeigt sich der Buddhismus in Europa heute – als Wahrheitslehre, als spirituell orientierte Organisation, als gesellschaftliche Kraft? Was kann er in einer Zeit besonderer individueller und allgemein menschlicher Krisen bedeuten und bewirken? Was unterscheidet ihn von seinen asiatischen Vorbildern?
Ein breites Spektrum unterschiedlicher Angebote und Aktivitäten während der Veranstaltung ermöglichte einen repräsentativen Eindruck. Das buddhistische Forum mit seinen Ständen und Präsentationen war eine facettenreiche Selbstdarstellung von Vereinen und Zentren, Verlagen und Initiativen. Musik- und Tanzdarbietungen, Filmvorführungen und Ausstellungen spiegelten nicht zuletzt den Einfluß der Buddha-Lehre auf Kunst, Kultur und gesellschaftliches Leben.
Auf der anderen Seite waren regelmäßige geleitete oder individuelle Meditationen nutzbringende Zeiten der Stille und der Innenschau – Ausdruck einer im Westen insgesamt ungewohnten, aber umso unentbehrlicheren Praxis.
Die von vielen am meisten geschätzten Glanzpunkte des Kongresses aber waren seine Vorträge. Acht hervorragende und international geschätzte Lehrerinnen und Lehrer des Buddha-Dharma waren der Einladung in die Werner-Seelenbinder-Halle gefolgt. Asiatische und europäische Buddhisten, Frauen und Männer, Vertreter der Theravada- bzw. der Pali-Tradition, des tibetischen Buddhismus, des Zen und einer jüngeren, integrativen Bewegung ergriffen das Wort.
Ihre Themenschwerpunkte und Perspektiven waren so unterschiedlich wie ihr persönlicher Lebens- und Erfahrungszusammenhang – Spiegel der ganzen Mannigfaltigkeit des Dharma und des menschlichen Lebens.
Sogyal Rinpoches Belehrung eröffnete die Reihe der Vorträge. Sein Akzent: die Bedeutung der Spiritualität im Alltag. Nur eine spirituelle Praxis, die in das tägliche Leben hineinreicht, es durchdringt und gestaltet, ist eigentliche Praxis. Nur auf diesem Weg wird auch die Meditation tiefen und dauerhaften Segen hervorbringen.
Tod und Vergänglichkeit im Buddhismus beleuchtete Rev. M. Daishin Morgan. Ihm kam es darauf an zu zeigen, wie jeder einzelne in der Begegnung mit dem Tod die Chance ergreifen kann, das Ungeborene zu entdecken. Still zu sein im Angesicht von Angst und Zweifel, bereit zu sein, wie ein Tautropfen in den großen Ozean einzutauchen, das ist genug.
Gesellschaftliche und politische Aspekte der Buddhalehre standen im Mittelpunkt der Ausführungen von Rewata Dhamma. In Anbetracht weltweiter Spannungen und zunehmender Konflikte auf unserem Kontinent gewinnt das mutige Eintreten für die unveräußerlichen Menschenrechte noch mehr an Bedeutung. Güte und Achtsamkeit sind ihre Garanten.
Die wahre Natur des Geistes entdeckt, wer dessen Verblendung und Verdunklung aufhebt. Das Beharren auf dem Prinzip der Dualität von Subjekt und Objekt, von ‚Ich‘ und ‚Welt‘ gehört dazu. Ebenso störende Emotionen, Tendenzen des Begehrens und der Ablehnung. An ihre Stelle sollten Mitgefühl und Weisheit treten, meinte Traleg Rinpoche.
Ebenfalls der gesellschaftlichen Dimension des europäischen Buddhismus galten die Betrachtungen Sangharakshitas. Er skizzierte die vielfältigen Ebenen der Integration des Buddha-Dharma im Westen unter den Bedingungen der heutigen Industriegesellschaft und Modelle des gemeinsamen Arbeitens, Wohnen und Praktizierens.
Wie vertragen sich höchste Wirklichkeit und Mensch-Sein? Dieser Frage ging Prabhasa Dharma Roshi nach. Sie erläuterte, wie Buddha-Natur und unsere Lebenswirklichkeit aufs engste miteinander verbunden sind. Was beinhaltet die Buddhalehre als ‚Freiheitsschule‘? Gangbare Wege zur Reinheit und Unmittelbarkeit unseres Geistes!
Daß ‚Friede mit jedem Schritt‘ möglich ist und praktiziert werden kann, war die zentrale Botschaft Thich Nhat Hanhs. Er wies einen Übungsweg, bei dem Achtsamkeit und Gewahrsein die elementaren Bestandteile sind. Einfachheit und Schlichtheit charakterisieren ihn ebenso wie die innere Verbundenheit alles Existierenden.
Die meisten Menschen suchen das Glück dort, wo es nicht zu finden ist, in der Welt mit ihren Sinnesfreuden. Aber die Lösung aller Probleme liegt in uns selbst. In der Meditation finden wir den ersehnten inneren Frieden. Dabei sind Ruhe, Einsicht und liebende Güte das ‚Herz der buddhistischen Meditation‘, so Ayya Khema.
Zwei von Sylvia Wetzel moderierte Podiumsveranstaltungen schließlich wollten die verschiedenen Interpreten noch einmal miteinander und mit dem Publikum ins Gespräch bringen. Die Gesprächsrunde ‚Buddhismus im Westen‘ thematisierte u.a. die unterschiedlichen persönlichen Zugänge westlicher Menschen zum Buddha-Dharma, Schwierigkeiten der Praxis, die Rolle der Frau sowie das Verhältnis des Buddhismus zum Christentum. Das zweite Podium hatte sich vorgenommen, gemeinsame Grundlagen der verschiedenen buddhistischen Traditionen herauszuarbeiten. Philosophische, psychologische und gesellschaftliche Aspekte von ‚Leerheit und Mitgefühl’ standen dabei im Zentrum. Fragen aus dem Publikum – etwa nach dem Wesen des Tantra, der Bedeutung von Sexualität, der Rolle des Sangha – brachten wertvolle Ergänzungen.
Die nun vorliegende Veröffentlichung umfasst alle Beiträge – nach ihrer Überarbeitung bzw. Übersetzung. Sie soll nicht nur einen dokumentarischen Charakter oder bloßen Erinnerungswert haben. Sicher waren die Berliner Tage für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine ermutigende und anregende Zeit. Sie hat aber auch deutlich gemacht, daß wir trotz allem noch ein gutes Stück Weges vor uns haben. Wohl läßt sich von einem ‚Buddhismus in Europa‘ sprechen, aber noch nicht von einem ‚europäischen Buddhismus‘ mit einem eigenen und unverwechselbaren Gepräge. Sicher ist die ‚Buntheit‘ seines Erscheinungsbildes ein attraktives und sympathisches Moment. Doch sie gleicht noch zu sehr der Schönheit einzelner Blumen, die erst zu einem Straß zusammengebunden werden wollen.
Zwei Aufgaben sind zu bewältigen. Soll ein europäischer Buddhismus entstehen, müssen wir das ‚Gemeinsame und Bleibende des Dharma‘ erkennen und reif werden für die ‚Ganzheit des Dharma‘.
Das ‚Gemeinsame und Bleibende des Dharma‘ zu erkennen heißt, die zeitlose und immer gültige Wahrheit seiner Belehrungen deutlich zu unterscheiden von den (kulturgeprägten) Formen, in denen sie uns gegenübertritt.
Allen buddhistischen Schulen ist die Verehrung von ‚Buddha, Dharma und Sangha‘ gemeinsam. Sie alle anerkennen die ‚Vier Edlen Wahrheiten‘, die Erkenntnis der ‚Vergänglichkeit, der Unzulänglichkeit und der Ichlosigkeit bzw. der Leerheit‘ sowie die Tatsache der ‚Bedingten Entstehung‘ aller Erscheinungen. Ihnen gemeinsam ist das ‚Vertrauen und das Wissen‘ um die Möglichkeit der Befreiung und des unantastbaren Friedens in der Überwindung von ‚Gier, Haß und Verblendung‘. Und schließlich gehen sie alle denselben Weg, den ‚Edlen Achtfachen Weg‘ des Buddha. Sie achten gleichermaßen ‚Weisheit und Mitgefühl‘ und die aus ihnen hervorgehenden ‚Regeln ethischen Verhaltens‘.
Aber das Wissen um diese Gemeinsamkeiten allein genügt nicht. Es geht um die Fähigkeit, sie in den jeweils anderen Traditionen auch wiederzuerkennen, ihre je unterschiedlichen Äußerungsformen anzuerkennen und auch auf andere Weise praktizieren zu können.
In der Geschichte des Buddhismus auf unserem Kontinent lassen sich mehrere Phasen ausmachen. Sie alle haben neue Entwicklungen mit sich gebracht, aber auch neue Begrenzungen und Verengungen. Wurde zu Beginn hauptsächlich der Intellekt angesprochen, kamen später gefühlsbezogene und religiöse Aspekte dazu. Gelegentlich wurde die Lehre des Buddha als Existenzanalyse betrachtet, gelegentlich als praktische Anleitung zur Lebensgestaltung und Lebensbewältigung. Dem einen war sie Möglichkeit für die individuelle Befreiung, dem anderen galt sie als Aufforderung zu gesellschaftlichem und sozialem Engagement. Mancher betonte den Wert von Gemeinschaft, kultischen Handlungen und Ritualen, mancher legte besonderes Gewicht auf Meditation und Versenkung.
‚Reifwerden für die Ganzheit des Dharma‘ bedeutet, jede verengte und verengende Betrachtung der Lehre des Buddha zu überwinden und ihre ganze Breite und Fülle zu entdecken. Das heißt zu bemerken, daß sie Theorie und Praxis ist, daß sie den ganzen Menschen anspricht, daß in ihr Ethik, Geistesschulung und Weisheit (‚sila, samadhi und panna/prajna‘) gleichermaßen wichtig sind; das heißt zu sehen, wieweit sie dem einzelnen und wieweit sie der Gesellschaft hilfreich sein kann.
All dem kommen wir im Dialog und in gemeinsamen Aktionen näher; der Berliner Kongreß war ein großer Schritt in diese Richtung. Ihm müssen viele weitere kleine Schritte und Anläufe folgen. Dazu gehören auch die Versuche, den Dharma mehr und mehr in der Sprache und dem Verständnis des Westens zu leben und zu lehren, auch mit eigenen, europäischen Lehrerinnen und Lehrern, die der Kultur und der wissenschaftlichen Tradition des Abendlandes entstammen bzw. an sie anknüpfen. Daß diese Entwicklung stattfindet, beobachten wir, und daß sie gelingt, hoffen wir. Wie sie im Einzelnen aussehen wird, kann heute indessen noch niemand sagen.
S.H. der Dalai Lama, Schirmherr unserer Veranstaltung, hat in seinem Grußwort an die Gäste formuliert:
„Während die Essenz des Buddhismus sich nicht wandelt, werden sich oberflächliche Aspekte durchaus verändern. Wie allerdings diese Veränderungen am jeweiligen Ort genau ausfallen werden, können wir nicht sagen. Dies entwickelt sich mit der Zeit. Als z.B. der Buddhismus von Indien kommend in Tibet eingeführt wurde, besaß niemand die Autorität zu sagen: ‚Von heute an müssen wir auf diese oder jene Weise praktizieren.‘ Nur in einer allmählichen Entwicklung entstand im Lauf der Zeit eine einzigartige Tradition. Ähnliches geschieht jetzt auch in Europa und anderswo in der westlichen Welt, und langsam wird sich vielleicht ein Buddhismus entwickeln, der sich mit der westlichen Kultur verbunden hat.“
Wenn dies gelingt, wird der Buddhismus in Europa seine Nischendasein beenden und eine bekanntere und anerkannterer Rolle spielen können.