Der Buddha hat sich selbst gelegentlich mit einem Arzt verglichen und sich sogar als der beste Menschheitsarzt bezeichnet. (Theragatha 830) Was erwartet man von einem Arzt?
Nun, er muss sich natürlich mit Krankheiten auskennen. Er muss sie feststellen und genau diagnostizieren können. Dazu gehört, dass er über die entsprechenden Symptome und unterschiedlichen Erscheinungsformen Bescheid weiß und sie zu beschreiben vermag. Dann sollte ihm klar sein, woher diese Beschwerden kommen, was ihre Ursachen sind und die Bedingungen, unter denen sie auftreten, sich verschlimmern oder abklingen. Ein guter Arzt kann außerdem die Heilungsmöglichkeiten verlässlich einschätzen. Es ist nicht genug, nur die Gebrechen als solche zu kennen. Entscheidend ist, ob man gesund werden kann. Und schließlich: Verfügt der Arzt auch über die notwendigen Heilmittel und Heilverfahren, die zur völligen Gesundung führen? Kann er uns sachkundig beraten und behandeln, und stellt er das Rezept für eine geeignete Medizin aus?
Diese vier Anforderungen an einen Arzt können wir nach dessen eigenem Bekunden von dem Buddha erwarten. Allerdings geht es ihm nicht um Bandscheiben, Infektionen, Brüche oder organische Fehlfunktionen. Es geht ihm nicht in erster Linie um unser körperliches Wohlbefinden (obwohl das natürlich auch wichtig ist), sondern darum, unsere gesamte Existenz in Ordnung zu bringen. Sie ist als Ganzes nicht intakt und bedarf der Heilung. Und genau davon handeln die Aussagen des Erwachten. Er analysiert unser Dasein so, wie es tatsächlich ist, mit all seinen sonnigen und schattigen Seiten. Er beschreibt die Gründe, warum die Dinge so und nicht anders sind. Er zeigt bessere Alternativen auf und berät uns, wie wir sie verwirklichen können. Traditionell sind das die ‚Vier Heilenden (oder Edlen) Wahrheiten' des Erwachten: die Wahrheit vom Leiden, die von seiner Entstehung und Fortsetzung, die von seiner Aufhebung und endlich die von den einzelnen Schritten, die zum Heil führen.
Fragt man sich nach den allgemeinsten und wichtigsten Lebenstatsachen, derer sich ein Mensch oder überhaupt ein empfindendes Wesen bewusst werden kann, wird man wahrscheinlich zunächst auf ganz unterschiedliche Antworten kommen. Mancher wird sich vielleicht an Descartes erinnern, der mit seinem „Ich denke, also bin ich" unsere Existenz geradezu mit dieser Geistestätigkeit identifiziert hat. Das lässt sich allerdings nicht einmal bezüglich der Menschen bestätigen. Andere werden womöglich die Erfahrung ihrer Lebendigkeit und die der ‚Welt' ins Feld führen usw. Der Buddha jedenfalls entgegnete auf dieselbe Frage: Die universellste und bewegendste Erfahrung ist die von dukkha.
Dieses aus dem mittelindischen Pali stammende Wort beschreibt eine Eigenschaft, die ausnahmslos allen Dingen zukommt. In jedem Erlebnis nämlich, in jeder Situation, in allen Erscheinungen steckt irgendeine Form von Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit. Es gibt keine Ausnahme. Niemals begegnen wir einer wirklich vollkommenen Sache oder erfahren einen restlos zufriedenstellenden Zustand. Nie finden wir unser höchstes Ideal verwirklicht, unsere verborgensten Wünsche ganz und gar befriedigt. Nie erleben wir wahre Erfüllung, auch wenn wir noch solange danach suchen und uns alle erdenkliche Mühe geben.
Dukkha - in welcher Form auch immer wir ihm begegnen - ist ein unvermeidlicher Aspekt des Lebens. Die meisten deutschen Übersetzer geben den Begriff mit ‚Leiden' wieder und benennen damit sicher einen hervorstechenden Wesenszug unseres Daseins. Beginnt unser Leben nicht mit einem Schrei bei der Geburt, und endet es nicht selten mit Klagen? Und dazwischen, wie viele schmerzliche Eindrücke treffen uns denn im Laufe der siebzig oder achtzig Jahre zwischen Geborenwerden und Sterben? Die Bandbreite zwischen Zahnweh und Lungenkrebs, Entbehrung und Armut, Liebeskummer und Zukunftsangst, Trauer und Verzweiflung oder Orientierungslosigkeit und geistiger Verwirrung ist gewaltig. Was wir wollen und erhoffen, zerschlägt sich; was wir fürchten und zu vermeiden suchen, tritt ein. Wie oft sind wir getrennt von dem, was uns lieb und teuer ist, und gezwungenermaßen vereint mit dem, was wir nicht leiden können oder manchmal sogar verabscheuen.
Aber brauchen wir für diese Erkenntnis einen großen spirituellen Lehrer, einen Buddha gar, einen Erwachten? Kann davon nicht jeder und ohne lange nachzudenken ein Lied singen? Tatsächlich ist die Bedeutung von dukkha viel weiter. Gemeint sind Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit in allen ihren offensichtlichen wie verborgenen Erscheinungsformen. Dieses ‚Leiden', von dem der Buddha sprach, ist nicht nur ein negatives oder missliches Gefühl, das gelegentlich auftaucht, aber auch irgendwann wieder verschwindet. Das Wort dukkha beschreibt eine existentielle Gegebenheit. Es sagt etwas über unsere Grundbefindlichkeit.
Wenn wir näher hinschauen, begegnen wir dukkha auf drei Weisen. In seiner offensichtlichsten Form manifestiert es sich als Schmerz, Unwohlsein, als unangenehme Empfindungen (dukkha dukkhata). Bezogen auf den Körper stehen dafür vor allem Alter, Krankheit und Tod. In ihnen zeigen sich die bedrückendsten Seiten unseres leiblichen Daseins. Der physische Organismus arbeitet nicht (mehr) einwandfrei oder setzt gänzlich aus. Seelisch umfasst dukkha Sorge, Verzweiflung, Depression, Angst, Ärger, Trauer, Enttäuschung und all die anderen Emotionen und Gemütszustände, die uns auf ganz handfeste Weise unglücklich sein lassen. Auf der geistigen Ebene sind es Unwissenheit und Orientierungslosigkeit, Irrtum und Illusion, die uns die Tage schwer machen.
Schon weniger deutlich als dukkha identifizierbar erweist sich eine zweite Variante: fortgesetzte Mühe und Anstrengung, Arbeit und Belastung. Um sie kommen wir nicht herum, wenn wir unseren Alltag bewältigen, unsere vielfältigen Bedürfnisse befriedigen, aufkommende Gefahren abwenden oder dem ‚Glück' wenigstens ein Stück näherkommen wollen. Hektik und Stress sind zeitgemäße und allzu gut bekannte Worte dafür. Und selbst wenn es nicht so schlimm zugeht: Wir befinden uns nie in einer Situation der Ruhe und eines wirklichen Friedens. Ständig kommen neue Anforderungen, Pflichten und Aufgaben auf uns zu, aber auch selbst gewählte und immer weiter gesteckte Ziele und Herausforderungen. Wir sind permanent am Machen und Tun.
In der äußeren Rastlosigkeit manifestiert sich unsere ständige innere Bewegtheit. Wann immer wir etwas tun, spiegelt das eine Situation des Mangels und der Bedürftigkeit. Irgendetwas von dem, was wir brauchen, fehlt, und deshalb sind wir hinter dieser Sache her. Ununterbrochen sind wir auf der Suche nach Befriedigung. Nie befinden wir uns mit dem Gegebenen ganz im Einklang, ein letztes Quentchen scheint uns stets von Erfülltsein und völliger Wunschlosigkeit zu trennen. Wir haben Sehnsucht nach etwas Zusätzlichem, Anderem, Neuem, Schönerem und Besserem. Wie oft empfinden wir sogar bewusst oder unbewusst, vom Eigentlichen getrennt zu sein. Wie auch immer, wir sind getrieben, dauernd unterwegs und nie am Ziel. Und auch das ist eine Form von Leiden, die Leidhaftigkeit der Aktivität (sankhara dukkhata).
Damit es keine Missverständnisse gibt. Der Buddha bestreitet natürlich nicht die angenehmen Seiten des Daseins, und er leugnet keineswegs, dass es auch schöne und beglückende Momente gibt. Gäbe es sonst eine Erklärung dafür, dass die meisten Menschen so sehr am Leben hängen, dass sie manche Unannehmlichkeiten gerne in Kauf nehmen und oft alles Mögliche unternehmen, um es zu erhalten und zu verlängern? Eine Vielzahl der Ratschläge des Buddha beziehen sich gerade darauf: Wie kann ich in meinem Lebens zu mehr Freude und Zufriedenheit kommen? Was muss ich tun, damit das Erfreuliche mehr und das Unerfreuliche weniger wird?
Doch der Buddha sieht, dass unsere Bemühungen doch nur sehr begrenzte Aussichten haben. Es ist ihm nicht entgangen, warum es auf dem von uns eingeschlagenen Weg letztendlich keine Erfüllung geben kann. Eine Form von dukkha nämlich reicht bis in die letzten Winkel des Daseins: die Vergänglichkeit. Sie ist der Wermutstropfen, der den glücklichsten Augenblicken und frohesten Zeiten ihre Vollkommenheit nimmt. Alles vergeht, nichts ist beständig und von Dauer, und genaugenommen können wir nicht einmal für einen Moment das festhalten, was dieser Welt angehört und woran unser Herz Gefallen findet. Während unsere Wünsche auf dauerhafte Erfüllung angelegt sind, kann die Welt allenfalls vorübergehende Befriedigung schaffen. Weil die Dinge entstanden, zusammengesetzt, zeitlich sind, werden sie sich notwendigerweise wandeln und wieder vergehen. Weil sie bedingt sind, gehen sie ihrem inneren Gesetz gemäß wieder unter.
Dass Besitz verloren gehen und materielle Gegenstände verschleißen oder zerbrechen können, ist nicht zu leugnen. Dass schöne Erlebnisse zu Ende gehen, bleibt ebenfalls eine wiederkehrende betrübliche Einsicht. Am Ende stehen bei allem durchweg Verlust und Abschied. Von geliebten Menschen müssen wir uns trennen, Beziehungen gehen in die Brüche. Und schließlich wird sogar das verschwinden, womit wir uns am stärksten identifizieren und woran wir am meisten hängen: der eigene Körper und der eigene Geist. Selbst unser Leben ist nicht von Dauer, im Tod haben weder unsere bisherige Person noch die gewohnte Umwelt länger Bestand.
Noch einmal: Es bedarf nicht eines Buddha, um die Tatsache von dukkha als solche auszumachen. Doch es bedarf eines Erwachten, um zu sehen, wie weit es reicht. Die Diagnose der ‚Krankheit Existenz' ist erst dann richtig gestellt, wenn restlos alle Symptome beschrieben sind. Selbst die, die man nicht leicht erkennt oder als solche gar nicht wahr haben will. Sonst ist eine völlige Gesundung ausgeschlossen. Wenn die verborgenen Tücken einer Erkrankung übersehen werden, können nicht alle verfügbaren Heilmittel zur Anwendung kommen. Ja, wir verstehen nicht einmal, was völlige Gesundheit und künftige Unverletzbarkeit tatsächlich bedeuten.
Viele Religionen sprechen vom ‚Jenseits', sie berichten von übermenschlichem, von ‚himmlischem' Dasein und schildern, wie großartig und freudvoll, jeder Mühe enthoben und erhaben, erstrebenswert und beglückend es ist. Jede Erfahrung ist wohltuend, jedes Erlebnis schön, jede Begegnung angenehm. Dem widerspricht der Buddha keineswegs. Manche Religionen und vor allem ihre Mystiker sprechen darüber hinaus sogar von der Möglichkeit, die Welt der Sinne und der Vielfalt ganz zu übersteigen. Sie sagen, dass sie ‚Ich und Welt' zeitweise hinter sich gelassen haben, und schwärmen von diesen Erfahrungen als etwas ganz und gar Wundervollem. Sie gehen über unsere Vorstellungskraft weit hinaus, betonen sie. Der Buddha kann derartige Aussagen ebenfalls nur bestätigen. Doch wenn diese Mystiker ihre Gipfelerlebnisse als ‚höchstes' Ziel oder ‚ewigen' Frieden verstehen, dann widerspricht der Erwachte entschieden. Für ihn sind selbst diese Erfahrungen unvollkommen. Sie sind nämlich ebenfalls wandelbar und müssen irgendwann einmal wieder vergehen, selbst wenn sie Äonen dauern und den Eindruck zeitloser Ewigkeit erwecken. Wer nur sie anstrebt, erreicht nur zeitweise Linderung seiner Krankheit, aber keine Heilung. Er kann aufatmen, ist aber nicht gesund.
Der Buddha belässt es nicht bei der bloßen Beschreibung der zahllosen Gesichter von dukkha, er wirft einen Blick hinter diese Erscheinungen und erforscht ihre Herkunft. Sein Fazit: Leiden und Unvollkommenheit sind nicht ‚einfach da'. Sie haben erkennbare und klar benennbare Bedingungen.
Und die wären? Mancher mag zunächst enttäuscht sein zu erfahren, worin unsere negativen Erfahrungen nicht begründet liegen. Nun, es ist nicht die Gesellschaft, es sind nicht die schlechten Zeiten, die unglücklichen Umstände, nicht der verständnislose Chef, der böse Nachbar oder gar der eigene Partner, die eigene Partnerin, ohne die alles besser oder gar problemlos wäre. Nicht einmal Gottes unerforschlicher Ratschluss kann als Erklärung herhalten. Leider - oder wie sich noch herausstellen wird - zum Glück gehen die gängigen Denk- und Erklärungsmuster, die Gründe erst einmal ‚woanders' zu suchen, an der Sache vorbei. Auch wenn es im ersten Moment eher unpopulär klingen und vereinfacht ausgedrückt sein mag: Bei uns selbst finden wir die Ursachen für das, was wir üblicherweise ‚Schicksal' nennen.
Generell gesprochen ist es gar nicht die ‚Welt' mit ihren Fehlern und Widrigkeiten, die uns das Leben mitunter schwer macht. Dass wir nie wirklich an das Ziel kommen, stets erneut enttäuscht werden und trotz nicht endender Anstrengung keine Erfüllung und Frieden finden, ist nicht den äußeren Gegebenheiten anzulasten. Unsere Haltung, unsere innere Einstellung gibt den Ausschlag. Die eigentlichen Ursachen für dukkha sind unsere (unrealistischen) Erwartungen dem Leben gegenüber und unsere (unerfüllbaren) Wünsche.
Tatsächlich sind wir alle bedürftige Wesen. Wir sehnen uns nach Leben und Erleben, nach materiellen Gütern, nach sozialen Kontakten und Anerkennung, nach Geborgenheit, nach Orientierung. Wir sind ein Sack voller Wünsche und Anliegen. Wir brauchen dieses und wollen jenes. Verlangen bewegt uns, Begehren treibt uns an. Oder wie es der Buddha in einem Bild ausdrückt: Es ist der ‚Durst' (tanha), der die Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt.1)
So farbig die Palette unserer Anliegen auch sein mag, sie lassen sich doch leicht auf drei Grundformen zurückführen. Eine erste ist das Haben- und das Genießenwollen. Damit ist die Jagd nach wohltuenden Sinnesobjekten und Sinneskontakten gemeint. Wir wollen sehen, hören, riechen, schmecken, tasten und denken. Für manche heißt das Geld und Haus, Auto und Urlaub, für manche Sex und Spiel, Spaß oder Unterhaltung, vielleicht auch Wissen und Einsichten. Selbst sublimere Formen des ästhetischen Genusses wie Theater und Literatur oder Musik und Kunst gehören hierher. Immer ist Abwechslung gefragt.
Bei den Beispielen von eben ist die äußere Welt Gegenstand des Interesses. Genauso kann das eigene Ich in den Blickpunkt rücken: Seinwollen. Mein Ego ist wichtig, es möchte im Zentrum stehen, beachtet, geliebt und geschätzt werden. Es drängt danach, eine bedeutende Rolle zu spielen, von den anderen unterschieden und herausgehoben. Ansehen und Ruhm, Karriere und Emanzipation, Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung sind die Leitbilder. Ich will etwas können und beherrschen, gestalten und bestimmen. Vor allem aber will ich leben, da sein, solange es geht und am besten für immer.
Die dritte Spielart des ‚Durstes' lässt sich aus den beiden beschriebenen ableiten: das Bestreben nach Veränderung. In dem Maße, wie jemand Zuneigung und Vorliebe für etwas Bestimmtes entwickelt hat, empfindet er Abneigung und Widerwille gegenüber dem Gegenteil davon. Der ‚Vernichtungsdurst' richtet sich gegen alles, was uns in die Quere kommt und unsere Wünsche durchkreuzt. „Das geht mir gegen den Strich!" „Das soll so nicht bleiben!" „Das muss weg!" Aus einer solchen Haltung entstehen Widerwille, Aggression, Wut und Hass. Tendenzen zur Umgestaltung, zur Erneuerung, Vernichtung oder Zerstörung sind auf sie zurückzuführen. Der Wunsch, sich selbst und sein unmittelbares Umfeld zu verändern, oder das Bemühen um gesellschaftliche oder politische Reformen.
Wir sind wie Durstige, die ein kühles Getränk vor ihren Augen haben. Aber leider versprechen unsere Wünsche mehr, als sie je halten können. Wenn wir uns mittels unserer Sinneskontakte äußere Objekte aneignen und einverleiben, wenn wir also ‚trinken', kommt das Verlangen in uns wohl zur Ruhe. Doch nur für kurze Zeit. Wie wenn man salziges Wasser zu sich nimmt und der Durst dadurch nur umso stärker wird, so kehrt der Erlebnishunger früher oder später zurück und verlangt nach mehr. Und nichts ist in der Lage, ihn endgültig zu stillen. Einen Grund dafür haben wir bereits kennengelernt. Weil alles Gewordene vergänglich ist, kann es bei ihm keinen beständigen Halt geben. Kein Gegenstand, kein lebendiges Wesen, keine Situation, keine sinnliche Erfahrung reicht hin, um uns das zu vermitteln, was letztlich ersehnen - inneren Frieden.
Deshalb lehrt der Buddha nachdrücklich: Was wir normalerweise als Voraussetzung für Glück und Zufriedenheit betrachten - die Erfüllung unserer Wünsche - ist gerade der Grund für Frustration und Unglück. Wo es Anliegen gibt, und seien sie noch so geringfügig, ist dukkha nicht weit. Mögen und Nichtmögen sind die eigentlichen Krankheitserreger, die unser Leben beeinträchtigen. Und in ihrer Begleitung eine falsche und verzerrte Sicht der Dinge, die uns das eine als begehrenswert und das andere als abstoßend erscheinen lässt. Wir werden von etwas angezogen oder angewidert, weil wir uns hinsichtlich der wahren Eigenschaften der Erscheinungen täuschen lassen. Wir sehen ihre Wandelbarkeit und Unbeständigkeit nicht, nicht ihre Substanzlosigkeit und nicht die Unmöglichkeit, durch sie jemals Erfüllung zu erlangen.
Die nüchterne Analyse des Buddha bleibt nicht auf ‚dieses eine' Leben begrenzt, denn dukkha ist nicht auf die wenigen Jahrzehnte beschränkt, die wir überschauen. Leben beginnt nicht mit der Zeugung, und es endet nicht mit dem Tod. Es ist ohne erkennbaren Anfang und kommt von alleine zu keinem Ende. Leben bringt sich immer wieder neu hervor. Solange ‚Durst' nicht gänzlich vernichtet wird, kann auch ‚Leiden' nicht aufhören.
Wenn der Buddha über dieses Thema in einer uns vertrauteren Sprache spricht und sich auf unsere Alltagserfahrungen bezieht, hören wir von Fortexistenz und Wiedergeburt. Oder von Karma, dem heilsamen und unheilsamen Tun der Wesen, das sie an den Daseinskreislauf fesselt. Das Gleiche, aber mit einer ‚wissenschaftlichen' Ausdrucksweise, beschreibt der Erwachte in seiner Formel von der Bedingten Entstehung (paticcasamuppada). Hier entschlüsselt er in zwölf analytischen Kategorien die Bedingtheit und wechselseitige Bezogenheit aller Phänomene.
Als Hauptbedingung schlechthin für den Lebens- und Leidensprozess gilt Unwissen (1). Damit ist allerdings nicht primär das Fehlen von geeigneten Informationen, Daten und Fakten gemeint, sondern falsche und illusionäre Vorstellungen hinsichtlich der Wirklichkeit. Unwissend zu sein heißt, auf eine Scheinrealität hereinzufallen und Fiktionen, Fehleinschätzung, ja Wahnideen zu erliegen. Vereinfacht gesagt besteht unser Grundirrtum darin, dass wir Welt und Ich in naiver Weise für objektiv halten. Wer wie selbstverständlich an die Realität dessen glaubt, was er sieht und wahrnimmt, muss all das ernst nehmen. Folglich wird er auf die vermeintlichen Tatsachen reagieren und versuchen, auf sie seinen Neigungen und Interessen entsprechend einzuwirken. So entsteht Aktivität (2) mit ihrer doppelten Ausrichtung. Negative Erfahrungen sollen abgeschwächt oder am besten ganz vermieden, positive und erfreuliche herbeigeführt, wiederholt und intensiviert werden. Dieses Wechselspiel von (äußeren) Einflüssen oder ‚Herausforderungen' und den entsprechenden Antworten nimmt früher oder später eine bestimmte Dynamik (3) an. Stabile Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster kristallisieren sich heraus, die immer dem erwähnten Maßstab folgen: weniger Leiden und mehr Wohl! Und zwar auf zwei Ebenen, auf der psychischen und der physischen. Immer finden wir uns nämlich als Geist-Körper-Komplex (4) vor, der mit der Umwelt kommuniziert und interagiert. Diese Zweiheit lässt sich näher beschreiben. Der Buddha spricht dann von dem Sechsfachen Gebiet (5), auf dem sich ‚Innen' und ‚Außen' - Ich und Welt also - begegnen. Da sind Sehvermögen, Sehdrang und Auge auf der einen und die sichtbaren Objekte, Formen und Farben auf der anderen Seite. Und da gibt es die weiteren fünf Sinnesfähigkeiten und -organe (Ohr, Nase, Zunge, Haut bzw. der gesamte Körper) mit ihnen jeweils entsprechenden äußeren Objekten einschließlich dem Denken und den Ideen, Vorstellungen und Gedanken.
Schon die Bezeichnung Bedingte Entstehung verweist auf die dynamische Beziehung der einzelnen Elemente. Es handelt sich nicht um ein bloßes Nebeneinander, sondern um ein Miteinander-Bestehen und Auseinander-Hervorgehen dieser zwölf Faktoren. Die Berührung (6) beschreibt der Buddha in der Reihe als nächstes. Sie ist gegeben, wenn die (psychischen) Sinnesdränge über die Sinnesorgane mit den Sinnesobjekten zusammentreffen. Wenn zum Beispiel das auf Sehen orientierte, sehbedürftige Auge auf einen sichtbaren Gegenstand trifft. Ein solcher Kontakt hat jedes Mal ein Gefühl (7) zur Folge; ein angenehmes, wenn der wahrgenommene Gegenstand als schön, wohltuend usw. empfunden wird, ein unangenehmes, wenn die betreffende Sache als abstoßend, unerfreulich usw. aufgefasst wird, und ein neutrales, wenn beides nicht zutrifft. Gefühle sind der Widerhall unserer latenten oder manifesten Wünsche und Ängste, Bedürfnisse und Sehnsüchte in der akuten Begegnung mit der Welt. Wunscherfüllung lässt positive Empfindungen aufsteigen, und Frustration negative. Und Gefühle sind zugleich Anstoß zu einer weiteren Beschäftigung mit ihnen und ihrem Ursprung. Zuerst kreist das Denken um die gemachten Erfahrungen mit der Tendenz, die angenehmen zu wiederholen und den unangenehmen auszuweichen. So entsteht das lockende Bild des Erstrebenswerten in unserem Geist, der ‚Durst' (8), der auf (erneute) Befriedigung drängt. Wenn ihm gefolgt wird, wenn also unser akutes Verlangen - erst im Denken und dann im Reden und im Handeln - gestillt wird, nennt man das Ergreifen oder Aneignung (9). In ihnen vollzieht sich bemerkt oder unbemerkt die Identifikation mit einer Situation oder einer Sache und damit die Fortsetzung der ganzen Lebens- und Leidensmaschinerie. Jedes bejahende und annehmende Akzeptieren einer Gefühlsbefriedigung ist nämlich zugleich ein geistig-energetischer Impuls, der den Daseinsprozess, das Werden (10), fortsetzt. Was jetzt Wollen, Absicht, treibendes Motiv ist, wird sich irgendwann auch einmal als äußere Entsprechung in der Welt zeigen. Es wird sich aus seinem latenten Sein erheben und zur ‚Geburt' (11) kommen, das heißt sich auf der sinnlichen Ebene manifestieren. Und das weitere kennen wir. Was entstanden ist, wird wieder vergehen. Was geworden ist, zeitigt Veränderung, Abnutzung und schließlich völlige Vernichtung - Altern und Sterben (12). Und mit ihnen ist diese ganze Leidensmasse gegeben, wie es der Buddha formuliert.
Wer nach den wirklichen Bedingungen für das Entstehen von dukkha und dessen Fortsetzung fragt, kann die Antwort in der Lehre des Bedingten Entstehens finden. Sie beschreibt die verborgene Dynamik und Gesetzmäßigkeit des Lebens und seiner Krankheitssymptome.
Seitdem mit Arthur Schopenhauer der Buddhismus bei uns bekannter wurde, gilt er vielen als eine eher weltabgewandte und pessimistische Weltanschauung. Nicht zuletzt deshalb, weil so häufig und eindringlich von dukkha die Rede ist. Für manchen scheint das nicht so recht zu der westlichen und optimistischen Lebensauffassung zu passen.
Die Frage ist allerdings, ob in diesem Zusammenhang die Kategorien von Pessimismus und Optimismus überhaupt angebracht sind. Was erwarten wir denn, wenn wir zu einem Heilkundigen gehen und uns untersuchen lassen? Ist uns mit einem ‚optimistischen' Arzt gedient, der uns entgegen aller erkennbarer Fakten versichert, dass wir gesund sind? Sollen wir seinen ‚pessimistischen' Kollegen ablehnen, der uns eröffnet, dass wir eine mehr oder weniger schwere Krankheit haben? Auf seine Einstellungen kommt es gar nicht an. Entscheidend ist, ob ein Arzt realistisch ist, ob er einen zutreffenden Befund erstellt und offen und wohlwollend mit uns umgeht.
Wer die Gründe für einen Zustand in Erfahrung bringt, gewinnt damit Gestaltungsmöglichkeiten. Das gilt für jede einzelne Alltagssituation wie für unser ganzes Leben. Wir sind den vorgefundenen Gegebenheiten nicht hilflos ausgeliefert oder zwangsläufig ausgesetzt. Wenn alle Erscheinungen bedingt sind und sich mit den Bedingungen wandeln, können wir konkreten Einfluss nehmen. Wenn ich die Herkunft meines Gebrechens kenne, ist bald eine Erfolg versprechende Therapie in Sicht.
Aus dem weiter oben Gesagten ergeben sich gleich mehrere und sich ergänzende Ansatzpunkte. Wenn Unwissenheit und Irrtum der Nährboden sind, auf dem alle unguten Dinge keimen und gedeihen, sind sie es, die es zu beseitigen gilt. Wenn Einsicht, Wissen und Weisheit an die Stelle geistiger Verwirrung treten, wird die Gesundung von der ‚Krankheit Existenz' unzweifelhaft erfolgen. Wenn andererseits der ‚Durst' als die treibende Kraft identifiziert ist, die den Daseinskreislauf in Schwung hält, muss er entfernt werden. Um frei zu werden gilt es, die Fesseln von Seinwollen und Habenwollen abzustreifen, die wir uns selbst angelegt haben. Oder dasselbe in einer noch anderen Betrachtungsweise: Verschwinden die drei grundlegenden geistigen Gifte ‚Gier, Hass und Verblendung', klingt auch der Fieberwahn des Daseins ab.
Auch diese dritte Wahrheit des Buddha lässt sich am präzisesten und umfassendsten in den zwölf Kategorien der Bedingten Entstehung wiedergeben. In ihrer gegenläufigen Abfolge. Was darf nicht sein, wenn Altern und Sterben - und dukkha überhaupt - aufhören sollen? Geburt! Und wie lässt die sich vermeiden? Indem der Werdeprozess unterbrochen wird! Auf welche Weise gelingt das? Indem man dem auftretenden ‚Durst' nicht nachgibt und so Ergreifen nicht stattfinden kann! Dem Durst wiederum wird die Basis entzogen, wenn Gefühle nicht länger aufkommen. Und sie können es nicht länger, wo Berührung ausbleibt. Die Bedingung hierfür ist erwartungsgemäß die Abwesenheit des gesamten psycho-physischen Komplexes mit seiner sechsfachen Struktur. Und weiter: Wo die Eigendynamik des Erlebens nicht länger unterstützt wird, entstehen künftig überhaupt weder Körper noch Geist. Wo die Tausend Einzelaktivitäten und Reaktionen auf die (vermeintlichen) Herausforderungen des Alltags eingestellt werden, ist das Leben nicht länger auf die eigene Fortsetzung programmiert. Und primär bedarf es der Aufhebung jener tief verankerten Täuschung, die uns eine Wirklichkeit vorgaukelt, die gar keine ist.
Einwände erheben sich. Bedeutet das denn in der Konsequenz nicht auch den Verzicht auf all das, was uns lieb und teuer ist? Was den Sinn unseres Lebens und bisherigen Strebens ausmacht? Läuft das Ganze nicht darauf hinaus, dass der Daseinsprozess am Ende vollständig zur Ruhe kommt und mit ihm das Wichtigste und Beste, das wir besitzen? Nein, lautet die Antwort des Buddha. Wer nach und nach seine tief verwurzelten Illusionen verliert, wer Traum von Realität und Wertloses von Wertvollem unterscheiden lernt, stellt beruhigt fest: Wir geben etwas auf - aber nur, was wir ohnehin nicht festhalten können, weil es vergänglich ist. Wir verzichten - aber nur auf das, was seinem Wesen nach schmerzlich und mangelhaft ist und als Bedingung zu wirklichem Glück ohnehin nicht taugt. Wir lassen los - aber nur, was uns sowieso nicht gehört, was ohne Substanz, ohne Eigennatur und ohne bleibendes Ich ist.
Positiv ausgedrückt: Hört Verlangen auf, hört dukkha auf. Ist der ‚Durst' völlig versiegt, ist nibbana (Sanskrit: Nirvana), das große ‚Erlöschen' und Ende des Daseinsbrandes. Was dem Unwissenden als das ‚Nichts' erscheinen muss, ist für den Belehrten geradezu ‚Alles'. Unmissverständlich rühmt der Buddha das Nirvana als das letzte Ziel und das höchste Gut der spirituellen Praxis. Nach seinen Worten ist diese Stätte frei von Kummer und Leidenschaft, das selige Zurruhekommen, das sichere Eiland, des Alters und des Todes völliges Enden, das Ende des Leidens, die Wahrheit, das sichere Ufer, das unbeschreiblich Feine, das Unverwelkliche, das Unsterbliche, das Erlesene, der Segen, der Frieden ... (Samyutta Nikaya 43)
Wer um ein Ziel weiß und es erreichen will, möchte auch einen Weg kennen, der zu ihm führt. Die vierte Wahrheit des Buddha beschreibt, wie wir nibbana tatsächlich erreichen können.
Der Buddha selbst gebraucht die Metapher von dem ‚Edlen Achtfachen Pfad' (atthangika magga). Um einen spirituellen ‚Weg' handelt es sich, weil es nicht reicht ausreicht, nur abzuwarten, bis sich die Dinge von alleine regeln, wir müssen uns aufmachen und etwas tun. Als ‚achtfach' wird diese Praxis bezeichnet, weil sie aus acht aufeinander bezogenen und voneinander abhängigen Elementen besteht. Sie beschreitet einen ‚Mittleren Weg' und sie besteht aus Übungsschritten, die Extreme vermeidet und uns weder über- noch unterfordert. Wer übt, braucht nicht schon alles zu können, aber er darf auch das Ziel der Vervollkommnung nicht aus dem Auge verlieren. Um in dem uns schon vertrauten Bild zu bleiben: Das von dem Buddha verordnete Trainings- und Schulungsprogramm ist die geeignete Medizin, die einen vollständigen Heilungserfolg verspricht.
Die Richtige Anschauung (samma ditthi) steht am Beginn des achtfaches Pfades. Ideen, Vorstellungen und Einsichten gehen unserem Tun voraus. Was wir wissen und was wir für richtig und wichtig halten, gibt die Richtung unseres Handelns vor. Darum ist Orientierung unerlässlich, das Verständnis der Realität, der ungetrübte Blick für die Wirklichkeit. Man muss über die Existenz im Ganzen Bescheid wissen und ihre Gesetzmäßigkeiten kennen. Wenn wir die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, von Handeln und Erleben sehen, brauchen wir nicht länger blind zu experimentieren. Wenn uns klar ist, wie dukkha entsteht und warum es sich fortsetzt, haben wir die Chance zur Befreiung.
Wirklichkeitsgemäßes Erkennen führt zu gültigen Wertmaßstäben und Leitbildern. Was wir kennen und schätzen, was wir für nützlich und sinnvoll, für befriedigend und Glück verheißend halten, das steuern wir an. Je öfter wir uns etwas vorstellen und uns mit einer Sache geistig auseinandersetzen, umso mehr und eher wollen wir sie auch erreichen. Die Motive unseres Handelns und unsere innere Einstellung dem Leben gegenüber entstehen aus dem beurteilenden und wertenden Denken. Aus Gedanken werden Gemütsverfassungen, womit wir beim zweiten Glied des achtfachen Pfades sind. Was bedeutet eine Richtige Geisteshaltung (samma sankappa) zu haben konkret? Nicht begehrlich und maßlos zu sein, Feindseligkeit und Aggression abzubauen, Ärger und Rücksichtslosigkeit sein zu lassen! Positiv formuliert gehören zu den angemessenen Motivationen: Freundlichkeit und Güte, die nicht allein das eigene Ich kennt, sondern genauso den anderen Menschen Aufmerksamkeit und Zuwendung schenkt; Mitempfinden, das den Nächsten in seiner Not und Bedürftigkeit sieht und helfen will; Mitfreude, die ihm alles Gute gönnen und gerne an dessen Glück teilhaben lässt, und Gelassenheit oder Gleichmut, der uns in erfreulichen wie in schwierigen Situationen gleichermaßen ermöglicht, souverän und gelassen zu agieren.
Unser Weltbild und unsere Geisteshaltung äußern sich auf dreifache Weise im praktischen Tun und Lassen. Dem Denken am nächsten ist die Sprache, der kommunikative Umgang mit anderen. Mit dem Sprechen wirken wir auf die Menschen um uns herum ein, wir beeinflussen, was sie denken, wahrnehmen und wollen. Auch das bedeutet für uns Verantwortung. Richtige Rede (samma vaci) hat vier Aspekte. Sie beinhaltet den Verzicht auf Lüge und bewusst irreführende und betrügerische Worte. Sie vermeidet Intrigen, bei der die Wahrheit zwar gesagt, aber doch missbraucht wird, um Zwietracht zu stiften und Disharmonie zu schüren. Statt einer groben und verletzenden, harten und lauten Sprache geht es um eine höfliche, wohltuende, zu Herzen gehende und angenehme Ausdrucksweise. Endlich bedeutet Richtige Rede, dass unnützes Gerede, oberflächliches, vordergründiges Geplauder und sinn- und geistloses Geschwätz aufhören und dem Austausch über tiefere und heilsame Themen Platz machen.
Neben dem Denken und Reden ist das Handeln ein weiterer Ausdruck der menschlichen Aktivität. Gemeint ist jede Tätigkeit unter Einsatz des Körpers, die sich auf die Gestaltung und Veränderung der äußeren, materiellen Welt richtet. Rechtes Tun (samma kammanta) nimmt sich zum Ziel, niemanden zu verletzen, zu schädigen oder gar zu töten. Der Körper, das Leben und die Gesundheit des anderen sollen unangetastet bleiben. Weiter sind sein Besitz und Eigentum tabu, es sei denn, der Betreffende gibt mir etwas freiwillig und gerne. Rechtes Handeln schließt auch jedes sexuelle Fehlverhalten aus.
Die Rechte Lebensführung (samma ajiva) als drittes direkt handlungsbezogenes Übungsfeld beinhaltet einige ergänzende Empfehlungen. Sie beziehen sich vor allem auf die Ausübung eines moralisch unbelasteten Berufes, den richtigen mitmenschlichen Umgang und eine angemessene Freizeitgestaltung. Wer einen Beruf wählt, sollte darauf achten, dass seine Tätigkeit Dritte nicht schädigt. Niemand sollte auf Kosten anderer leben und seine Tage genießen. Aus diesem Grund lehnte der Buddha beispielsweise den Handel mit Waffen und Giften ebenso ab wie jedes andere grausame Gewerbe. Außerdem kann Gewinnmaximierung nicht der Hauptzweck von Arbeit sein. Arbeiten, um zu leben - ja, allein um reich zu werden - nein! Umsicht ist genauso bei der Auswahl von Freunden und Bekannten geboten. Sind die sozialen Kontakte Hilfen oder Hindernisse auf dem spirituellen Weg? Machen sie mich oberflächlicher und unbesonnener oder wecken und fördern sie meine besten Anlagen und Absichten? Ähnliche Fragen lassen sich bezüglich der Freizeitgestaltung stellen. Besteht sie hauptsächlich aus geistlosen und banalen Vergnügungen, und spielt Genuss die erste Geige? Oder nutze ich die verfügbare Zeit im Sinne meiner besten Möglichkeiten?
Die weiteren Schritte des buddhistischen Trainingsprogramms zielen mehr nach ‚innen' und haben schwerpunktmäßig mit unserer Selbsterziehung und Selbstbeherrschung zu tun. Eine Schlüsselstellung kommt dabei der Richtigen Anstrengung (samma vayama) zu. Ohne Einsatz ändern sich die Dinge nicht, und wenn wir unseren Charakter zum Positiven verändern wollen, kommen wir um einem bestimmten Aufwand von Energie nicht herum. Nur wer gezielt die guten Potentiale in sich weckt und untaugliche Gedanken, Stimmungen und Emotionen abtut, wird etwas erreichen. Um mit einer Metapher des Buddha zu sprechen: bei diesem Übungsabschnitt stehen die ‚Vier großen Kämpfe' auf dem Programm: Vermeiden, Überwinden, Hervorbringen, Entfalten. Nicht vorhandene negative Eigenschaften, wie zum Beispiel Neid oder Geiz, Ärger oder Unehrlichkeit, werden am allerbesten überhaupt an ihrem Auftauchen gehindert. Melden sie sich doch, beseitigt man sie schnellstmöglich. Vorhandene positive Qualitäten, wie etwa Freigebigkeit und Freundlichkeit, Geduld Rücksicht, gilt es dagegen zu erhalten und ihnen noch mehr Raum zu geben. Und wenn wir sie bei uns (noch) nicht vorfinden, warum erwecken wir sie dann nicht?
Dazu ist wie auch sonst Richtige Achtsamkeit (samma sati) unverzichtbar. Geistige Präsenz, Wachheit, Klarheit. Ich muss mitbekommen, was los ist, ich darf die Realität - bei mir selbst und um mich herum - nicht aus den Augen verlieren. Ich muss sie vielmehr gründlich und so genau wie möglich betrachten. Was denke und fühle ich gerade? Welche Emotionen bewegen mich im Moment? In welchem Zustand befindet sich mein Körper? Achtsamkeit heißt die Lebenstatsachen unverzerrt und in ihrem Wirkungszusammenhang wahrzunehmen. Jenseits ihrer meist täuschenden Erscheinungsweise. Wir müssen die Dinge sehen, wie sie sind und nicht gefärbt von Mögen oder Nichtmögen, Zuneigung oder Abneigung.
Dieses Feld geistiger Disziplinierung ist weit gesteckt. Es umfasst den Alltag mit Beruf, Familie und Freizeit ebenso wie die strenge formelle Meditation. Es setzt bei der Übung an, sich an die Wahrheiten und Einsichten des Buddha zu erinnern und sich damit seine Maßstäbe und Leitlinien immer wieder neu vor Augen zu bringen. Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart, Wissensklarheit, Bewusstheit sind bei allen Tätigkeiten und rund um die Uhr gefordert. Weiß ich wirklich, was ich tue? Kenne ich die Folgen? Sind meine Ziele und Motive einwandfrei? Taugen die vorgesehenen Mittel? Die Übung findet ihre Krönung in der fortgeschrittenen Meditationspraxis mit der klaren, stillen und unabgelenkten analytischen Betrachtung aller geistigen und körperlichen Prozesse (satipatthana).
Am ‚Ende' des achtteiligen Übungsweges steht die Richtige Sammlung (samma samadhi). Zu ihr gelangt, wer inneren Frieden statt Befriedigung durch Sinnesobjekte sucht. Sammlung und Konzentration als Aspekt der ‚Meditation' sind eine Alternative zu dem gewöhnlichen Leben der Vielfalt und Buntheit. Zerstreuung und Rastlosigkeit, das ständige Gerissen- und Getriebensein durch die Anforderungen des Lebens und unsere eigenen Wünsche werden durch die Richtige Sammlung schwächer. Sie führt allmählich von der bewegten Fülle von Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken zur beruhigenden Einheit. Der Geist wird still(er) und getragen von Gleichmut und innerer Harmonie. Wenigstens von Zeit zu Zeit können wir gelassener und souveräner agieren und den ruhenden Pol in uns finden. Mit einemmal finden wir das Glück in uns selbst, das wir bisher vergeblich ‚draußen' gesucht haben. Wie alle Übungsfelder hat auch die Sammlung viele Ebene und Abstufungen. An ihrer Spitze steht die tiefe Konzentration, das Erleben der Einheit und des Herzensfriedens mit den meditativen Vertiefungen (jhana). Mit ihnen betritt man eine neue Dimension der Wahrnehmung und transzendiert schließlich sogar die Dualität von Ich und Welt.
Dieser nun in groben Umrissen skizzierte ‚Achtfache Weg' des Buddha beinhaltet alles, was für den Heilungsprozess des Menschen vonnöten ist. Er ist darauf angelegt, dukkha in jeglicher Erscheinungsform und endgültig zu überwinden. Mehr ist nicht erforderlich, aber von diesen Gesundungsschritten kann auch keiner ausgelassen oder übersprungen werden. Nur alle acht zusammen bilden eine vollständige und damit aussichtsreiche Therapie. In drei Schwerpunkten lässt sie sich zusammenfassen: Sie beginnt mit Wissen und Weisheit, also der grundlegenden Neuorientierung unseres Geistes. Sie setzt sich fort mit Ethik und Moral als veränderte Lebenspraxis bzw. Veredelung unseres Verhaltens gegenüber anderen. Und sie findet ihren Abschluss in der Meditation, der Tür zu innerer Beruhigung und zu einem tieferen und befreienden Erleben.
Der Buddha hat uns aus der Fülle seiner unmittelbaren Erfahrung und der praktischen Erprobung an sich selbst die beschriebenen Heilmittel und die Behandlungsmethoden empfohlen. Er hat das ‚Rezept' ausgestellt und bietet es jedem an. Es einzulösen und anzuwenden ist unsere Sache.
1) Der Buddha nennt außer dem Durst (tanha) als Ursache von dukkha auch noch ‚Gier, Hass und Verblendung' (raga, dosa, moha) und ‚Nichtwissen' (avijja). Am ausführlichsten stellt er den Leidenszusammenhang in seiner Lehre von der Bedingten Entstehung (paticca samuppada) dar. Vgl. dazu meinen Beitrag Was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Kette des Bedingten Entstehens in: Raimund Beyerlein (Hrsg.): Der Buddha und seine Lehre. Elf Beiträge zur Rechten Anschauung, Stammbach-Herrnschrot 2002 (Beyerlein & Steinschulte).