Es ist ein Segen, dass es die Familie gibt. Es ist schön, wenn in der Familie mit einander geredet wird. Es ist gut, wenn gemeinsame Werte vorhanden und anerkannt werden. Es ist richtig, gleiche Ziele ins Auge zu fassen, sich gegenseitig zu unterstützen und auch zusammen in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten.
Wo Menschen beieinander sind, gibt es auch Differenzen und Unterschiede. Nicht jeder teilt dieselbe Sicht der Dinge, verfolgt die dieselben Interessen und verfügt über dieselben Fähigkeiten. Mitunter kommt es zum Streit und nicht selten sogar zu noch Schlimmerem. Umso erfreulicher, wenn gerade auch dann guter Wille und gangbare Wege existieren, näher zusammen zurücken und Harmonie zu stiften.
Das alles gilt nicht weniger, wenn es sich um eine große religiös orientierte und geprägte Familie handelt. Ich begrüße daher die Einrichtung und die Arbeit des Abrahamischen Forums. Die in ihm engagierten Personen setzen sich dafür ein, dass die Beteiligten mehr von einander erfahren, dass das wechselseitige Verständnis wächst und der gemeinsame Dialog nicht abreißt. Das abrahamische Forum wirkt zudem nach außen, wirbt für seine Anliegen und fordert zum Mitmachen auf. Juden, Christen, Muslime und Bahá'i wollen und sollen also friedlich mit einander leben. Das erfordert viele kleine und oft mühsame Schritte, wie die Verantwortlichen selbst wissen und erfahren. Aber ihr Ziel ist ehrgeizig und im Ganzen viel weiter gesteckt: „Vom christlichen Abendland zum abrahamischen Europa", lautet es.
Warum bin ich bei der Lektüre der zehn Thesen dennoch nachdenklich geworden? Der Grund ist einfach: Ich gehöre nicht zu dieser Familie. Was ist mit mir? Nein, ich will mich natürlich nicht aufdrängen, ich fühle mich dieser Familie ja auch gar nicht zugehörig, auch wenn ich vieles bejahen und unterstützen kann, was in ihr eine wichtige Rolle spielt. Tatsächlich stamme ich aus einem anderen geistigen Umfeld mit ganz eigenen Sichtweisen und Überzeugungen, Haltungen und Hoffnungen, und „bei uns" sind ganz ähnliche Fragen zu beantworten und vergleichbare Aufgaben zu erfüllen. Was mir aber fehlt, ist mindestens eine elfte These, die zum Ausdruck bringt, wie die abrahamischen Religionen zu den Religionen stehen, die einen anderen Ursprung und eine völlig andersartige Grundlage haben.
Es ist sicher kein leichtes theologisches Unterfangen, in der Gottesfrage auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen: Stichwort Trinität. Oder der Rolle von Jesus Christus oder Mohammeds gerecht zu werden. Wie aber umgehen mit Menschen, die einen Schöpfergott gar nicht kennen bzw. anerkennen? Die ihr Leben nach vergleichbaren ethischen Regeln gestalten wollen, diese aber ganz anders begründen? Deren Spiritualität sich grundlegend unterscheidet und deren religiöse Praxis eben kein Gottesdienst ist? Ist die eigene Großfamilie wirklich alles?
Wie sollen „wir Buddhisten" beispielsweise die Vision des Forums von einem „Abrahamischen Europa" verstehen? Zumindest missverständlich ist die Formulierung. Wenn ich sie wohlwollend betrachte, verstehe ich, dass das Neben- und teilweise Gegeneinander der prophetischen Religionen in Europa einem künftigen Miteinander weichen soll. Sie könnte aber auch bedeuten, dass das Europa der Zukunft abrahamisch und eben nur abrahamisch sein soll und für andere religiöse Strömungen kein Platz ist. Das aber wäre weder akzeptabel noch zukunftsweisend. Tatsächlich haben sich die Zeiten und die Umstände auf unserem Kontinent geändert. Vor dieser Folie sind die zehn Thesen, von denen ich einige wenige kurz kommentieren möchte, ebenfalls zu betrachten.
„Religiös ist Europa durch die abrahamischen Religionen Judentum, Christentum und Islam geprägt", so die erste These. Sie ist richtig, aber doch beschreibt dieser Satz die Realität eher mit Blick auf die Vergangenheit. Er ignoriert, dass der gesellschaftliche Einfluss der Religionen generell seit langen abnimmt und in der öffentlichen wie persönlichen Wahrnehmung längst nicht mehr den Stellenwert hat wie früher. Spiritualität insgesamt hat ihren Stellenwert eingebüßt. Ein naturwissenschaftliches Weltbild und eine materialistische Einstellung bestimmen mehr und mehr das Leben der Menschen. Und die Gewichte im religiösen Lager verschieben sich. Sicher stimmt: „Das Christentum ist (dabei) historisch und aktuell von herausragender Bedeutung", und doch besitzt es nicht länger ihre gestaltende Kraft von einst. Heute ist der Islam ein Wachstumsfaktor, der manche staunen und andere die unterschiedlichsten Befürchtungen hegen lässt. Und dass sich die Gewichte gravierend weiter zuungunsten des Christentum verschieben, dafür sorgen schon demografische Faktoren.
Außerdem: Wenn 98 % der europäischen Bevölkerung den abrahamischen Religionen angehören, ist diese zahlenmäßige Dominanz nicht allein maßgebend. Immer mehr Menschen fühlen sich mittlerweile von fernöstlichen Religionen angesprochen, zu denen auch der Buddhismus gehört. Seine Denkansätze und Sichtweisen gewinnen an Boden und an Überzeugungskraft. Wenn man den Statistiken trauen darf, gibt es heute in Deutschland bereits rund doppelt so viele Buddhistinnen und Buddhisten wie Juden. Rund 200.000 Asiaten und Deutsche bekennen sich zu ihm. Tendenz steigend. So gesehen ist Europa nicht abrahamisch und wird es auch nicht sein. Es lohnt sich deshalb, diese Tatsache mit im Auge zu haben und den Blick über die eigene spirituelle Heimat hinaus zu wagen.
Das hat natürlich praktische Konsequenzen. In der sechsten These wird mit Recht für mehr gegenseitiges Verständnis geworben, das Ängste mindern und Vorurteile ausräumen kann. Abrahamische Foren und Teams sind eine Möglichkeit, das zu erreichen und die Brüder und Schwestern einander näher zu bringen, die eine religiöse Blutsverwandtschaft ohnehin verbindet. Das gilt für junge Leute ganz besonders. Aber reicht es in religionsferner werdenden und immer stärker komsumfixierten Zeiten aus, Häuser Abrahams zu bauen und mit Leben zu füllen? Ist es insbesondere ein staatliche Aufgabe, solche Einrichtungen (mit einer begrenzten und „internen" Intention) zu fördern? Macht es nicht mehr Sinn „Häuser der Religion" ins Leben zu rufen und mit öffentlichen Mitteln auszustatten, um der Spiritualität in unserem Land ganz allgemein mehr Gewicht zu geben?
Und noch einmal: „Für Angehörige abrahamischer Religionen sind zugleich Dialoge mit nicht-religiös geprägten Menschen wichtig", heißt es am Ende dieses Absatzes. Ich unterstreiche und bejahe diesen Satz, möchte aber erneut fragen, was aus dem Dialog mit den Frauen und Männern aller anderen religiösen Traditionen wird, die sich in Deutschland und Europa zuhause fühlen?
Hier soll mein Zwischenruf enden. Seiner Natur gemäß ist er eher ein spontaner Denkanstoß als ein ausgereifter und differenzierter Beitrag in einer nicht einfachen Debatte. Er stellt vor allem Fragen zur weiteren Klärung, weil in knappen Thesen, wie auch den vorliegenden, manches zugespitzt und damit verkürzt dargestellt werden muss.
Stand: 22.3.08