Das war die Situation in Europa vor einem halben Jahrhundert. Geprägt durch die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges stand ein Gedanke im Vordergrund: Nie mehr dürfen Konflikte zwischen den Staaten unseres Kontinents gewaltsam gelöst werden. Niemals wieder dürfen sich kriegerische Auseinandersetzungen unter Nachbarn wiederholen, denn aus ihnen gehen nur Verlierer hervor. Nur der Ausgleich der Interessen und der Dialog sind sinnvolle Alternativen.
Was lag damals näher, als den anstehenden Wiederaufbau der zerstörten Länder beziehungsweise den beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung selbst zu einem friedenstiftenden Instrument zu machen? Wer Handel miteinander treibt, wer in den unterschiedlichsten ökonomischen Sektoren kooperiert und wechselseitige Verflechtungen schafft, die allen Beteiligten von Nutzen sind - kann der tatsächlich wieder zu einem Feind werden oder gar einen Krieg wollen? Vor diesem Hintergrund wurden die EWG und die EU aus der Taufe gehoben, die von nun an den europäischen Kontinent prägte.
Das Konzept ging auf. Die Produktionsziffern erreichten nie gekannte Höhen, die Versorgung der Menschen mit materiellen Gütern war gewährleistet. Hunger war kein bedrohendes Thema mehr, allgemeiner Wohlstand erreichte viel Schichten und - aus Erbfeinden wurden Partner.
Doch es zeigte sich nach nicht allzu langer Zeit, daß das bei weitem nicht genug war. ‘Butterberge' und ‘Weinseen' waren bald nicht nur ein Ausdruck von materiellem Reichtum, sondern wurden selbst zu einem Problem. Tieferliegende Defizite wurden deutlich. Sollte die Europäische Union nicht mehr sein als eine Gemeinschaft von Produzenten und Konsumenten, als eine Union der Konzerne? Wo blieb die soziale Dimension dieser Gemeinschaft? Was galten ihre kulturellen Werte und Traditionen? Wie stand es mit einer enger werdenden politischen Zusammenarbeit, die die Gemeinsamkeiten noch vertiefen und das demokratische Erbe des Kontinents bewahren würde?
Diese sich bis in die Gegenwart stellenden schwierigen Fragen und die unbewältigte Umbruchsituation nach dem Fall der Mauer fordern neue, globalere Antworten. Wer sie finden will, darf nicht mehr länger nur einzelne Sektoren und Teilbereiche des Zusammenlebens ins Auge fassen. Wir müssen die wechselseitigen Verflochtenheiten und Abhängigkeiten vieler unterschiedlicher Lebensbereiche sehen.
Ein Europa der Vielfalt ist mehr als ein Schlagwort. Sie ist auch nicht nur eine schlichte Gegebenheit, sondern ebenfalls eine Chance. Die Stärke Europas sind seine mannigfaltigen Traditionen und Überlieferungen, die Vielfalt seiner Sprachen, seiner Musik, Kunst und Philosophie. War früher einmal die Angleichung an eine einheitliche europäische Norm um jeden Preis gefragt, geht es heute um die bewußte und gewollte Gestaltung des Zusammenlebens von Gesellschaften mit unterschiedlichen Werten, Anschauungen und Vorstellungen, Lebensentwürfen und Lösungsansätzen. Und der sich daraus ergebende Austausch macht alle viel reicher als der bloße Austausch von Waren.
Wer an diesem Punkt nicht einen weiteren Schritt nach vorne wagt, geht tatsächlich zurück. Der vielerorts wieder aufkeimende Nationalismus (in seinem zerstörerischen Sinn) weist darauf hin. Die sich mehrenden Versuche, auf eigene Faust und ohne Rücksicht auf die „anderen" Probleme zu lösen, neue Abgrenzungen in den Köpfen und faktische Ausgrenzung zu propagieren, kommt uns bekannt vor und um seine längerfristigen Auswirkungen wissen wir nur zu gut.
Die Mängel der weiter oben skizzierten gesamtgesellschaftlichen Situation werden von vielen Menschen heute deutlich gesehen oder wenigstens als tiefe Verunsicherung empfunden. Die Religionen haben offensichtliche Schwierigkeiten, darauf angemessen zu reagieren. Europa ist gegenwärtig kein „Kontinent der Religionen". Gewiß, die großen Kirchen und Religionsgemeinschaften erfüllen nach wie vor viele unentbehrliche Aufgaben im Rahmen der tradierten Rollen. Neben dem spirituellen haben sie im sozialen Bereich Verantwortung übernommen und sind vielfach zu Trägern von Aufgaben geworden, die der Staat alleine nicht mehr zu erfüllen in der Lage ist. Dennoch prägen sie mit ihren Werten nicht mehr (maßgeblich) das Bild der Gesellschaft, und ihre Kraft reicht nicht aus, um die Richtung der künftigen Entwicklung nachhaltig zu bestimmen. Dazu kommen nicht zuletzt auch spirituelle Defizite im engeren Sinn.
Andererseits lenkt das Scheitern des rein materialistischen Ansatzes den Blick wieder zurück auf die geistige und geistliche Dimension des Lebens. Viele Menschen erkennen in ihr eine verschüttete und vergessenen Seite ihrer Existenz. Die Religionen gewinnen bei ihnen wieder eine zunehmende Bedeutung. Von ihr erhoffen sie sich neue Orientierung und Rückhalt.
Für die organisierten Religionen ist es beides: eine Herausforderung, der sie sich stellen müssen, und eine Chance, die der eigenen Wiederbelebung dienen kann. Dabei geht es aber in erster Linie nicht um eine bestimmte religiöse Weltanschauung oder eine besondere Glaubenspraxis. Vorrangig ist eine religiöse Grundhaltung als solche, die uns verläßlichere Maßstäbe für unserer Lebensgestaltung gibt und uns zuversichtlicher macht, was die gemeinsame Zukunft angeht. Denn wie gesagt: Materielle Güter können inneren Reichtum nicht ersetzen, und harmonische zwischenmenschliche Beziehungen haben einen anderen Wert als Besitz und Luxus.
Und genau hier liegt ein möglicher Einsatzpunkt der Religionen, der ihnen gemeinsam ist und sie verbinden kann. Eine ihrer Aufgaben war es immer, die befreiende Bedeutung der Ethik zu vermitteln und ihre Rolle für das menschliche Zusammenleben zu zeigen. Nein, es geht nicht um den erhobenen Zeigefinger und um bornierte, kleinkarierte und überholte Moralvorschriften. Es geht um die Gestaltungsprinzipien sozialer Beziehungen. Es geht um die Einsicht, daß ich nicht als einziger Vorstellungen und Ideen, Wünsche und Ziele, Ängste und Befürchtungen habe. Es geht um die Erkenntnis, daß solche Vorstellungen und Ideen, Wünsche und Ziele, Ängste und Befürchtungen durchaus unterschiedlich sein können. Und letztlich geht es darum zu sehen, daß nur die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller und der Ausgleich ihrer Interessen Voraussetzung zum Überleben der gesamten Gesellschaft und Voraussetzung für das Glück jedes einzelnen ist. Diese Grundwahrheiten für unsere Zeit neu zu formulieren und zu begründen ist eine vorrangige Aufgabe der Religionen.
Ethik betont in ihrem Kern immer die Gleichheit der Menschen, die Gleichheit ihrer elementaren Anliegen, ihre Gleichheit in der Suche nach Sicherheit und Erfüllung über alle Unterschiede des Geschlechtes, des Alters, der Nation und der Rasse hinaus. Und sie versteht sich als erprobtes ‘Mittel', all das ein Stück weit Realität werden zu lassen.
Gerade in schwierigen Zeiten werden oft die selben Fragen virulent: Wer trägt die Verantwortung für die (für meine) aktuelle Misere? Wer hat „Schuld", daß es zu wenige Wohnungen, nicht ausreichend viele Arbeitsplätze und Lehrstellen gibt? Daß wir uns auf einmal in mancherlei Hinsicht einschränken müssen? Und eine Standardantwort ist ebenfalls oft schnell zur Hand: „die anderen". Wer die „anderen" sind, ist dabei zweitrangig, aber sie sind die vermeintlichen Urheber für die gegenwärtige Krise. Diejenigen, die sich anders kleiden, etwas anderes essen, einen anderen Glauben haben, einer anderen Rassen angehören. Das Fremde muß herhalten, wenn man einen Sündenbock braucht, und oft sind es eben die Angehörigen eines anderen Volkes oder einer anderen Nationalität oder einer anderen Religion, auf denen man seinen Ärger und seine Frustration ablädt.
Deshalb gibt es sie noch immer und gerade wieder in Europa: rassistische und fremdenfeindliche Tendenzen, und es hat den Anschein, als sei ihr Potential größer, als bisher offensichtlich geworden ist. Auf sie hereinzufallen oder sie zu mißbrauchen fällt deshalb besonders leicht, weil sich in sie so vieles hineinpacken läßt. Ökonomische, kulturelle, psychologische, religiöse und andere Momente - sie alle spielen eine Rolle. Mögen fremdenfeindliche oder rassistische Tendenzen bewußt und gezielt propagiert werden oder als dumpfe Ressentiments für Stimmung sorgen, immer haben sie Entsolidarisierung und Spaltung zum Ergebnis.
In China sagt man: Wenn die alten Kaiser ihr Reich in Ordnung bringen wollten, kümmerten sie sich zunächst um die Hauptstadt. Bevor sie aber daran gingen, richteten sie ihr Augenmerk auf den Königshof. Und davor noch sahen sie nach dem rechten in der eigenen Familie. Doch vor all dem regelten sie ihre persönlichen Belange.
Die Haltung der (organisierten) Religionen kann nicht sein, nur für ein Europa der Solidarität zu werben oder ein Europa ohne Fremdenfeindlichkeit lediglich von anderen einzufordern. Sie selbst haben zu lernen und zu zeigen, wie man mit „Fremdem" umgeht. Ich meine an dieser Stelle vor allem „fremde" Religionen und Weltanschauungen. Daß das schon lange keine akademische Frage mehr ist, ergibt sich aus unserer tatsächlichen Lebenssituation. Gerade in den Städten wird es immer häufiger, daß Anhänger unterschiedlicher Religionen auf engem Raum zusammenleben. Menschen unterschiedlichen Glaubens wohnen im selben Haus, arbeiten im selben Betrieb, benutzen dieselben Verkehrsmittel und begegnen sich auf der Straße.
So wie wir schon von unseren Nachbarn, ihrer Lebensweise und ihrem Denken und Fühlen meist viel zu wenig wissen, so wissen die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft viel zu wenig von den Inhalten und Ausdrucksformen anderen Glaubens. Wissen voneinander und Umgang miteinander sind aber unabdingbare Voraussetzungen für besseres Verständnis und ein konfliktfreies, wenn nicht gar freundschaftliches Zusammenleben.
Die Religionen müssen zeigen, daß es möglich ich, über ideologische Grenzen hinweg zu kooperieren. Ihr Anspruch bezüglich der gesellschaftlichen Wirklichkeit und moralischer Werte ist nur dann glaubwürdig, wenn sie selbst in ihrem eigenen Bereich geeignete Modelle erproben und vorleben. Das ist sicher nicht einfach, weil hier nicht selten dieselben Vorbehalte und Ängste herrschen wie überall sonst. (Organisierte) Religionen entwickeln oft eigene Interessen, die nur vermittelt etwas mit ihren eigentlichen spirituellen Zielen zu tun haben. Materielle Anliegen, gesellschaftlicher und politischer Einfluß oder persönliche Macht sind Beispiele. Wie schnell werden da andere Glaubensgemeinschaften und ihre Vertreter zu unliebsamen Konkurrenten oder gar Feinden.
Solidarität der Religionen kann daher zum Vorbild einer solidarischen Gesellschaft werden. Soweit es den Religionen gelingt, Fremdes zu Vertrautem und den Fremden zum Freund zu machen, genau in demselben Maß ist ein Europa ohne Fremdenfeindlichkeit schon ein Stück Wirklichkeit geworden. Daraus ergibt sich nicht nur eine zentrale Aufgabe für die Religionen, an dieser Zukunft mitzuarbeiten, sondern zugleich eine neue Chance. Vielleicht sogar entscheidet sich daran ihre eigene Zukunft.
Ich habe diese Zeilen geschrieben, ohne auch nur ein einziges Mal das Wort „Buddhismus" zu erwähnen, obwohl ich selbst als „Buddhist" schreibe. Ich habe das bewußt getan, weil es im Zusammenhang gerade mit diesem Thema nur in zweiter oder dritter Linie darauf ankommt, welcher spirituellen Tradition man folgt.
Alle Religionen haben ein gemeinsames Fundament, das wie erwähnt für das gesellschaftliche Zusammenleben von zentraler Bedeutung ist: ihre ethische Orientierung und ihre humane Grundhaltung. Jede Religion lehrt, daß Rücksicht auf den anderen, die Beachtung seiner Eigenheiten und Bedürfnisse Verhaltensweisen sind, die am Ende allen nützen. Das Fremde ist nur fremd, wenn man es dazu macht oder dabei beläßt.
Meine Argumentation leugnet nicht den Unterschied der Religionen. Ich plädiere nicht für Nivellierung oder Gleichmacherei. Warum wäre ich sonst als Europäer Buddhist geworden!? Ich vergesse auch nicht, daß Spiritualität eine Dimension hat, die letztlich weit über die Unmittelbarkeit unseres Daseins hinausweist. Aber ich bin mir des eingeschränkten Stellenwertes solcher Unterschiede und religiöser „Fernziele" für das konkrete Zusammenleben der Menschen hier und jetzt bewußt. Ich bin mir im klaren darüber, wie unwichtig sie sind, wenn es um das Ziel geht: ein Europa ohne Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu schaffen.