Der Mensch ist ein aktives, wirkendes und wirksames Wesen. Was immer er tut, die Ausrichtung seines Handelns ist „hin zum Besseren". Sein Tun uns Lassen ist der immer währende Versuch, von einer unvollkommenen, unangenehmen oder leidvollen Situation (oder von einer so empfundenen) zu einer angemesseneren, befriedigenderen oder erfüllenderen zu gelangen. Dabei liegt der Akzent im Westen eher bei der Erforschung und der Gestaltung der „materiellen Welt". Hier ist Aktivität weitgehend nach außen, auf die Dinge in Raum und Zeit gerichtet. Im Buddhismus lässt sich dem gegenüber eine deutliche Schwerpunktverlagerung ausmachen. Sein Augenmerk gilt in besonderem Maße der „inneren Welt". Bei ihm rücken der menschliche Geist und das menschliche Verhalten in den Mittelpunkt, und Ziel ist, die eigene Natur kennen zu lernen, sie in ihrer ganzen Tiefe zu erkunden und zu verstehen. Es gilt das geistige Potential des Menschen zu entfalten, um ihn lebenstauglicher um gemeinschaftsfähiger werden zu lassen und um schließlich seine Befreiung von jeder Unzulänglichkeit zu ermöglichen.
Die buddhistische Lehre und Praxis baut auf die menschliche Fähigkeit, sich zu verändern, zu lernen und zu wachsen, die (eigene) unvollkommene und unfreie Persönlichkeit zu transformieren und zu transzendieren.
Außerdem versteht sich buddhistische Spiritualität als eine umfassende Praxis, die alle wesentlichen Aspekte des Lebens einbezieht: Dazu zählt die uns sehr vertraute physische Ebene des Handelns; solche Aktivitäten also, die unter Einsatz des Körpers erfolgen. Das meint die Begegnung mit anderen Menschen in den unterschiedlichsten Situationen wie den Umgang mit den Tausend Dingen der natürlichen oder der von uns geschaffenen Umwelt. Es geht aber genauso um den gesamten Komplex des Fühlens und Wollens, um unsere seelische Aktivität. Wie gehen wir mit unseren Wünschen um, mit unseren Empfindungen, mit den manifesten und latenten Neigungen und Kräften? Es bleibt schließlich noch die Ebene des Wahrnehmens und des Denkens, die Tätigkeit des Geistes im engeren Sinn, die des Intellekts, die der Gedanken und Vorstellungen. Alle drei Bereiche sind zugleich Felder der Übung und der Vervollkommnung. In der buddhistischen Terminologie sind das „Wissen" oder „Weisheit", „ethisches Handeln" und „Meditation".
Wie lassen sie sich genauer beschreiben? Besonders in der ältesten und ursprünglichen buddhistischen Tradition und in den Dialogen des Buddha selbst ist immer wieder von einem „Edlen Achtfachen Weg" die Rede. Wer einen „Weg" geht, steuert bewusst oder unbewusst ein bestimmtes Ziel an. Der bildhafte Ausdruck vom Weg oder Pfad steht für den spirituellen Wandlungsprozess und die damit verbundene Praxis. Sehr gut lässt sich dieser Weg auch als ein systematisches und fein abgestimmtes Trainingsprogramm begreifen. Achtfach ist es, denn es umfasst traditionell acht Abschnitte oder Aspekte (Ziffern 1-8). Und „Edel" beziehungsweise „Heilend" wird es von dem Buddha genannt, weil es eine ganz außerordentliche Qualität besitzt: Dieser Weg erfüllt einen höchsten und letzten (spirituellen) Zweck - die völlige Befreiung des Menschen von Unvollkommenheit und Unerfülltheit (Ziffern 9-10).
Zunächst soll es um den Schwerpunkt der geistigen Aktivität gehen. Sie beinhaltet die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Realität, das Verstehen der Wirklichkeit, und zielt auf Wissen und Einsicht, Erkenntnis und Weisheit.
Unser Bild der Wirklichkeit (1)
Um zu überleben, müssen wir gemachte Erfahrungen ordnen, interpretieren und bewerten. Einen entscheidenden Teil unseres Lebens verbringen wir deshalb damit, uns Wissen anzueignen und Orientierung zu verschaffen. Im Laufe der Zeit verdichten sich unsere zunehmenden Kenntnisse zu einem mehr oder weniger komplexen Weltbild. Das mag individuell ganz unterschiedlich aussehen und der Wirklichkeit entsprechen oder weit von ihr entfernt sein. In aller Regel ist ein solches Wissen - auch bei herausragender Gelehrsamkeit im Einzelnen - nur von relativer Tiefe und Bedeutung. Zur „rechten" Anschauung im Sinne des Buddha gehören vier elementare Einsichten in die Daseinswirklichkeit, die dem Blick normalerweise Menschen verborgen bleiben. Wenigstens in ihrem vollem Umfang und in ihrer letzten Konsequenz. Die Rede ist von den „Vier Edlen Wahrheiten" des Buddha.
Die erste bezieht sich auf die Tatsache, dass das Leben unvollkommen und nicht wirklich erfüllend ist und es auch nicht sein kann. Körperlicher Schmerz und geistiges Leiden, äußerer Mangel und inneres Unbefriedigtsein, das Gefühl des Getrenntseins vom Eigentlichen usw. sind allgegenwärtige und zeitlose Grunderfahrungen des Menschen (Pali: dukkha). Diesen Sachverhalt erläutert der Buddha mit allen seinen offensichtlichen und verborgenen Facetten.
Die zweite Wahrheit nennt die Bedingungen und Ursachen dafür. Sie beschreibt die Gründe, warum wir dukkha erfahren und warum es sich trotz aller Bemühungen um Abhilfe dennoch fortsetzt: Es sind unsere unrealistischen Wünsche und trügerischen Hoffnungen. Wir streben nach Dingen, die es so nicht gibt, und jagen Träumen nach, die sich nicht erfüllen können. Wir hängen an illusionären Vorstellungen über die Welt und das Leben. Irrtum und Illusion prägen unser Denken mehr, als wir es glauben können und wahrhaben wollen.
Die positive Alternative dazu wird in der „Dritten Edlen Wahrheit" formuliert. Sie enthält die Versicherung des Buddha, dass es Vollkommenheit, uneingeschränktes Glück, unerschütterlichen inneren Friede und das Erwachen aus Unwissenheit gibt und dass man dieses „höchste Gut" erreichen kann. Der Buddha selbst nennt es Nirvana. Es wird möglich, wo Nichtwissen und Verwirrung enden und Gier und Hass verschwinden.
Wie das praktisch geschieht, ist Gegenstand der vierten und letzten Grundwahrheit. Und mit ihr schließt sich der Kreis: Die Umsetzung der drei ersten Wahrheiten und die konkrete Vorgehensweise ist wiederum nichts anderes als der „Edle Achtfache Weg", von dem gerade die Rede ist. Das „Training des Geistes", um das es im Moment geht, widmet sich der Aufgabe, sich von falschen Anschauungen über die Daseinswirklichkeit frei zu machen und sie vielmehr so zu sehen, wie sie tatsächlich ist. Vorurteilsfrei, ohne individuelle Verzerrungen durch Vorlieben für bestimmte Ideen und Vorstellungen und Abneigung gegenüber anderen.
Motivation (2)
Das zweite Moment des spirituellen Trainings hat mit der Geisteshaltung des Menschen beziehungsweise mit seiner Lebenseinstellung zu tun. Sie ist eng mit seinen Anschauungen verknüpft. Aus dem, was wir für richtig, gut und wertvoll halten, geht unsere Motivation hervor. Was wir kennen und schätzen, wollen wir haben oder tun. Unsere Wertmaßstäbe entscheiden über unsere Wünsche und Sehnsüchte, unsere praktischen Ziele und Vorhaben. Die Vorstellungen, mit denen wir uns identifizieren, unsere Leitbilder und Ideen sind der Ausgangspunkt unserer Absichten und später unserer Handlungen.
Auch hier haben wir es mit geistiger Aktivität zu tun, die jedoch persönlicher und innerlicher ist als die vorher beschriebene. Abstraktes Wissen über die Dinge wird nun zum Nachdenken über deren konkrete Bedeutung und ihre Auswirkungen auf mich selbst. Diese Art zu denken berührt und prägt unsere emotionale Seite, unsere Gesinnung und innere Ausrichtung, letztlich unseren Charakter. Sie steht an der Schwelle vom Wissen zum Wollen. Sie nimmt geistig vorweg, was wir irgendwann sagen und dann auch tun werden. Wie entscheidend diese (geistige) Aktivität ist, kann hier nur angedeutet werden: Was wir denken und wollen, Gutes und Schlechtes, werden wir tun und - eines Tages erleben! Vom Geist gehen die Dinge aus sagt der Buddha, und die Welt ist nur sein Spiegelbild.
Unter „Rechter Motivation" versteht der Erwachte alle positiven und im spirituellen Sinne heilsamen Grundmuster des Denkens. Drei Alternativen zu den gewöhnlichen und als unzulänglich erkannten Geisteshaltungen nennt er. Die erste stellt die Entdeckung inneren Reichtums und die Fähigkeit, sich aus der Abhängigkeit von äußeren Dingen zu befreien, dem rein materialistischen Interesse und der Fixierung auf sinnliches Erleben gegenüber: Letztere führen unausweichlich zu dukkha. Bloßes Haben- und Genießenwollen enden notwendigerweise in Frustration. Weiter gelten Freundlichkeit, Wohlwollen und Herzlichkeit als sehr förderlich, Egobezogenheit, Blindheit und Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber dagegen als schädlich und unheilsam. Und schließlich werden Mitempfinden, Hilfsbereitschaft, Solidarität und helfende Zuwendung empfohlen, eine abweisende, feindselige oder sogar hasserfüllte und gewaltorientierte Denkweise hingegen als untauglich verworfen. Training des Geistes heißt an dieser Stelle, sich von seinen charakterlichen Schwächen und Defiziten freizumachen und in seine besseren Möglichkeiten hineinzuwachsen. Tatsächlich ist unser Wollen keineswegs determiniert und unveränderlich, es unterliegt vielmehr bestimmten Bedingungen, die wir gestalten können.
Wie angedeutet, nimmt alles Tun und Lassen seinen Ausgang im Denken und im Wollen. Von dort aus „äußert" es sich, zeigt sich in sichtbaren Handlungen. Das Lernfeld, von dem jetzt die Rede sein wird, ist der Umgang des Menschen mit der äußeren Welt beziehungsweise sein Verhalten den Mitwesen gegenüber. Welche Empfehlungen geben die buddhistischen Lehren hinsichtlich der sozialen Beziehungen? Welche Maßstäbe gelten im alltäglichen Miteinander? In anderen Worten, was zeichnet buddhistische Ethik aus und wie kann sie als Training verstanden werden?
Sprache (3)
Neben dem Denken ist die Sprache ein zweiter und bemerkenswerter Ausdruck menschlicher Aktivität. Verbale Kommunikation heißt auf den Geist anderer einzuwirken. Wer mit jemandem spricht, nimmt Einfluss auf dessen Ideen, auf dessen oder deren Vorstellungs- und Gefühlswelt. Er verändert gewollt oder ungewollt deren Ansichten und Absichten.
Buddhistinnen und Buddhisten bemühen sich um „Rechte Rede". Das heißt, dass sich im Idealfall jedes Wort an vier unverrückbaren Regeln messen soll. Zuallererst geht es darum, nicht bewusst zu lügen, jemanden absichtlich zu täuschen oder wissentlich falsche Behauptungen in die Welt zu setzen. Vielmehr sollte sich jeder der Wahrheit verpflichtet fühlen und sich für sie einsetzen. Außerdem wird man darauf achten, mit seiner Rede nicht Streit, Reibereien oder Zwietracht zu verursachen. Stattdessen wird sie schlichtend, versöhnlich und einigend ein. „Rechte Rede" ist darüber hinaus auch nicht roh, herzlos, laut, unhöflich oder verletzend, sondern wohltuend und im Ausdruck angemessen und dem Zuhörer angenehm. Die vierte und vielleicht schwierigste Regel lautet, die Themen und Inhalte von Gesprächen besser im Auge zu haben. Weniger Unnützes, Oberflächliches, Nebensächliches und Banales zu sagen, kann nur von Vorteil sein. Statt Geschwafel und Smalltalk, Getratsche und Geschwätz ist der Austausch über tiefer gehende und existenzielle Fragen weitaus angebrachter.
Diese vier Regeln als solche anzuerkennen ist die eine Sache, sie auch praktisch zu beherzigen und im Alltag nicht zu vergessen, eine andere. Buddhistisches Verhaltenstraining bedeutet, Anspruch und Wirklichkeit einander Schritt für Schritt anzunähern und im besten Fall in Deckung zu bringen. Denken und Reden sollten nicht auf Dauer in Widerstreit zueinander liegen.
Handeln (4)
Eine dritte Ebene menschlicher Aktivität (neben der Verstandestätigkeit und der Sprache) ist das Handeln im engeren Sinn. Damit ist unser Tun und Lassen unter Einsatz des Körpers gemeint, wobei dieses „Handanlegen" in unserer modernen Zeit durch alle möglichen technischen Hilfsmittel eine atemberaubende Erweiterung erfahren hat.
Aus buddhistischer Sicht sind auch da einige bewährte Spielregeln zu beachten. Der Grundsatz ist, bei der Verfolgung der eigenen Ziele und bei der Durchsetzung seiner Interessen bestimmte Grenzen nicht zu überschreiten. Konkreter: Buddhistinnen und Buddhisten bemühen sich, niemandem bewusst Schaden zuzufügen. Sie vermeiden so gut es geht, auf Kosten anderer zu leben und das Leben zu genießen.
Drei Maximen sind zu beachten. Die wichtigste ist, nicht zu töten oder jemanden zu verletzen. Leben ist vielmehr zu schützen und zu fördern, in welcher Form auch immer es uns entgegen tritt. Als Buddhist oder Buddhistin verzichtet man zudem darauf, sich etwas anzueignen, was einem nicht zusteht beziehungsweise (freiwillig) gegeben wird. Das ist weit mehr als nur die Entscheidung, nicht zu stehlen. Großzügigkeit und Freigebigkeit sind die positiven und nachahmenswerten Gegenstücke. Der dritte Aspekt der ethischen Praxis bezieht sich auf die Sexualität. Der Buddha rät nachdrücklich, alle unzulässigen und Leid bringenden Formen sexueller Begegnung zu vermeiden. Verletzendes, erniedrigendes und egoistisches Verhalten sind völlig tabu. Anzustreben ist, ein verlässlicher, verständnisvoller und liebevoller Partner zu sein, dem es nicht hauptsächlich um seine eigene sinnliche Befriedigung geht, sondern um das harmonische Miteinander.
Wieder gilt: Trotz meiner Einsicht in die Richtigkeit dieser drei moralischen Grundregeln, darf ich mich hinsichtlich ihrer Umsetzung nicht überfordern. Wollen heißt nicht schon können. Selbst wenn ich mir ernsthaft vornehme, mich immer einwandfrei zu verhalten, bin ich meist gar nicht in der Lage, die eigenen (hohen) Ansprüche uneingeschränkt einzulösen. Aus buddhistischer Sicht ist das weder zu erwarten noch besonders tragisch. Aus diesem Grund versteht man ethische Normen als Übungsanleitungen mit unterschiedlichen „Schwierigkeitsgraden" und Anforderungen.
Lebensführung (5)
Als sinnvolle Ergänzung zu dem bisher Gesagten formulierte der Buddha vier weitere ethische Standards.
Einer von ihnen bezieht sich darauf, dass der Mensch als „ökonomisches Subjekt" seine materiellen Existenzgrundlagen schaffen und erhalten muss. Bei vielen Gelegenheiten plädiert der Buddha nachdrücklich für einen moralisch einwandfreien Lebensunterhalt. Er rühmt keineswegs unfreiwillige Askese und erzwungenen Verzicht und wendet sich nicht gegen Besitz und Reichtum an sich. Er macht sie aber von der eigenen Arbeit und dem eigenen Einsatz abhängig. Ausbeuterische Verhältnisse und Übervorteilung in jeder Form lehnt er ab, denn sie bringen nur kurzfristige und nur scheinbare Vorteile. Darüber hinaus sollen Profit und Gewinnmaximierung nicht zum Selbstzweck werden, weil sie von dem Eigentlichen ablenken. Ebenfalls nicht gut geheißen werden Berufe, die darauf angelegt sind, anderen zu schaden. Der Handel mit Waffen, mit Giften oder lebenden Wesen sind Beispiele.
Weiter: Die Ausgestaltung der sozialen Beziehungen - sowohl in der Arbeitswelt wie im Familiären - richten sich am besten nach den Prinzipien des Interessenausgleiches und der gegenseitigen Achtung. Rücksichtnahme, das Bemühen um Harmonie und Solidarität sind wertvolle Prinzipien. Das Handeln zum gemeinsamen Vorteil ist der egoistischen Durchsetzung von Interessen und Ansprüchen allemal vorzuziehen.
Nicht minder bedeutsam ist die Wahl der Freunde und Bekannten. Im Idealfall sind Freundschaften Hilfen auf dem spirituellen Weg und nicht Partnerschaften zur Erfüllung bloß vordergründiger Anliegen.
Schließlich lenkt der Buddha die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise der Freizeitgestaltung, ein Thema, das heute von noch ungleich größerer Bedeutung ist als vor 2500 Jahren. Sein Rat ist, sich die Zeit weniger mit belanglosen und oberflächlichen Vergnügungen zu vertreiben als sie geistigem Wachstum und innerem Fortschritt zu widmen.
Der folgende dritte Schwerpunkt des Lernens und Übens in der buddhistischen Spiritualität befasst sich noch einmal mit der inneren Realität des Menschen, mit seinem Geist (jetzt in einer umfassenderen Bedeutung des Wortes). An dieser Stelle geht es um sein Fühlen und Wollen, um seine Emotionen, um die Art, Lebenssituationen wahrzunehmen und auf Erlebnisse und Erfahrungen zu reagieren. Für diesen Übungsteil steht der im Deutschen etwas vage und schillernde Begriff der Meditation. Meditation ist spirituelle Praxis im engeren Sinn, denn sie gehört zu einer Erfahrungswelt, die mit mehr Recht religiös genannt werden kann als die oben beschriebenen. Sie zielt auf die direkte Beeinflussung unserer Psyche und auf die Schulung seelisch-geistiger Vorgänge. Meditation führt zur Entdeckung und Entfaltung der meist verborgenen, besten und befreienden geistigen Potenziale in uns. Sie ist der Weg der Transformation der eigenen (begrenzten) Persönlichkeit und der Transzendierung der (oberflächlichen) Alltagswirklichkeit. Zur Meditation zählen drei Teilaspekte.
Sich-Mühen (6)
Jede Veränderung erfordert Energie. Wer ein Ergebnis erreichen will, bekommt es nicht ohne Einsatz und ein bestimmtes Maß an Anstrengung. Das ist für den Alltag ebenso richtig wie für den spirituellen Weg. Nur dass wir vielleicht weniger damit vertraut sind, mit und an uns selbst zu arbeiten. Meditation heißt, in jeder Lebenssituation einen positiven Einfluss auf seine geistige Verfassung zu nehmen. Jeder auftauchende Gedanke, jede Emotion, jede geistige Regung, jede Wahrnehmung kann zu einem Übungsobjekt werden, wenn wir uns nicht einfach treiben zu lassen, sondern bewusst und angemessen mit ihnen umgehen.
In der buddhistischen Tradition ist vom richtigen „Sich-Mühen" oder metaphorisch von den „Vier Kämpfen" die Rede. Der erste richtet sich darauf, negative Geisteszustände nach Möglichkeit erst gar nicht aufkommen zu lassen. Das bedeutet, sich unguten Einflüssen nicht unnötig auszusetzen, sondern sie zu vermeiden. Man muss nicht jede Sendung im Fernsehen sehen oder sich in jede missliche Lage freiwillig hineinziehen lassen! Umgekehrt versucht man, eine aus welchen Gründen auch immer aufgekommene schlechte Geistesverfassung umgehend wieder los zu werden. Warum sollten wir dumme Gedanken endlos weiter spinnen und sie noch tiefer in unseren Geist eingraben? Wir können sie genauso gut aufgeben. Daneben ist es zweifelsohne lohnend, noch nicht vorhandene gute Eigenschaften und Fähigkeiten in sich hervorzubringen. Es ist nur gut, seine Schwächen und Fehler zu sehen und sie alsbald zu beheben. Was ich nicht kann, kann ich lernen. Schließlich und endlich heißt „Rechtes Mühen", bereits vorhandene heilsame Geisteszustände festzuhalten, ihnen Nahrung zu geben und sie zur vollen Entfaltung zu bringen. Wenn ich ein liebenswürdiger Mensch bin, sollte ich es bleiben und vielleicht sogar noch etwas herzlicher und zuvorkommender werden.
Also: Wer die Kunst der „richtigen Anstrengung" beherrscht, wird Gemütsverfassungen wie Ärger, Angst, Verzweiflung, Wut, Begehren und so weiter entweder ganz aus dem Weg gehen oder schnellstmöglich hinter sich lassen. Freude, innere Ruhe, Gelassenheit, Zufriedenheit und Freundlichkeit wird er dagegen gezielt in sich entstehen, wachsen und zur Blüte kommen lassen.
Achtsamkeit (7)
Unser Denken, Reden und Handeln erfolgt meist reaktiv. Es folgt Mustern, die unserem Wissen oft völlig entzogenen sind. Aus Mangel an Aufmerksamkeit, Wachheit und Klarheit hinsichtlich unseres Erlebens sind wir eher Getriebene als Akteure. Doch das muss nicht so sein. Wer das Heft seines Lebens selbst in die Hand nehmen will, braucht dazu jedoch ein hohes Maß an Geistesgegenwart und klarer Bewusstheit. Dem dient das Training der Achtsamkeit, einem weiteren und charakteristischen Anliegen der buddhistischen Meditation.
Achtsamkeit hat viele Facetten. Zunächst brauchen wir sie, um immer die richtigen Maßstäbe und Ziele für unser Handeln im Blick zu behalten. In jedem Moment muss mir klar sein, was ich tue und warum ich es tue. Ich muss wissen, ob die einzelnen Schritte in Übereinstimmung mit meinen besten Einsichten und höchsten Zielen stehen. Ebenso wichtig ist, dass die eingesetzten Mittel und Methoden etwas taugen. Und last not least bedeutet Achtsamkeit, dass mir deutlich wird, was in diesem Augenblick tatsächlich geschieht. Ich muss mitbekommen, was meine Alltagswirklichkeit in der Familie, im Beruf und in der Freizeit tatsächlich ausmacht. Ich muss fähig werden, in der Gegenwart zu leben und sie ganz zu erfassen.
Achtsamkeit wird darüber hinaus allerdings noch in einem spezielleren Sinn verstanden. Bei dem wiederholten und methodischen stillen „Sitzen auf dem Meditationskissen" ist sie eine besondere Form der Geistesschulung. Der Praktizierende übt, sich in jedem Augenblick aller seiner körperlichen und geistigen Prozesse gewahr zu sein. Der Meditierende versucht, alle physischen Empfindungen, alle angenehmen und unangenehmen Gefühle, Emotionen und Vorstellungen präzise und mit einer Haltung gelassener Offenheit zu beobachten. Er lässt die Wirklichkeit auf immer subtileren Ebenen zu sich sprechen, ohne in das Geschehen einzugreifen. Das ermöglicht mit der Zeit einen tiefen, genauen und unverzerrten Einblick in die eigentliche Natur von Körper und Geist.
Sammlung (8)
Wie eben angedeutet, wird der Geist durch die meditative Praxis klarer und schärfer. Aber er wird auch stiller und friedvoller. Meditation beinhaltet also ebenfalls die Entfaltung von Konzentration und Sammlung. Sie führt zu tiefer innerer Ruhe und Harmonie. Unruhe, Zerstreutheit und geistige Irritation hören nach und nach auf.
Im Alltag spiegelt sich das in einer zunehmenden Gelassenheit und Ausgeglichenheit, vor allem in angespannten und problematischen Situationen. Schwierigkeiten werden nicht unbedingt zu Belastungen, Aufgaben nicht unbedingt zu Problemen. In der fortgeschrittenen meditativen Praxis kann sogar die völlige Einsgerichtetheit, die „Einspitzigkeit" des Geistes erlebt werden. Eine Zeitlang ist die Aufmerksamkeit dann ausschließlich auf ein einziges Objekt gerichtet, mit dem sie schließlich völlig eins wird. Das kann die Schwelle zu einer ganz anderen, bisher völlig unbekannten Dimension der Erfahrung sein. Konzentration ist dann der Weg zur Transzendierung des sinnlichen Erlebens überhaupt, die im Westen besonders die mittelalterlichen christlichen Mystiker in ganz ähnlicher Weise beschrieben haben. An die Stelle der Wahrnehmung sichtbarer, hörbarer, riechbarer, schmeckbarer, tastbarer und denkbarer Objekte tritt das Bewusstsein ungeteilter Einheit. Die Dualität von Subjekt und Objekt existiert nicht länger. Damit verbunden ist die Erfahrung höchster Glückseligkeit und tiefen inneren Friedens. Was der Mensch sonst unablässig in der äußeren Welt sucht, Freude und Zufriedenheit, ist schon da - in ihm selbst. Das Empfinden von innerem Glück ist eine natürliche Eigenschaft des geschulten und reinen Geistes.
An dieser Stelle können die Wesenszüge der buddhistischen Praxis noch genauer herausgearbeitet werden. Vor allem ist sie kein Zeitvertreib und keine Spielerei. Der skizzierte „Edle Achtfache Weg" (Abschnitte 1-8), in dem sie ihren klassischen Ausdruck findet, hat ein weit reichendes Ziel und führt zu zwei unvergleichlichen Ergebnissen: zu Weisheit und Befreiung.
Unter Weisheit (9) verstehen Buddhistinnen und Buddhisten die direkte, intuitive und durchdringende Sicht der Realität. Weisheit besitzen heißt die Daseinswirklichkeit unmittelbar, unverzerrt und illusionslos zu sehen und nüchtern und unvoreingenommen die drei universellen Merkmale aller Daseinserscheinungen zu erkennen: Alle Phänomene sind unbeständig, vergänglich, vorübergehend, endlich. Sie alle sind zudem unvollkommen, letztlich unbefriedigend, nicht erfüllend, ohne eigentlichen Wert. Und schließlich sind sie ausnahmslos ohne Eigenexistenz, im Kern substanzlos, bedingt entstanden und von nur relativer Wirklichkeit.
Befreiung (10) meint das Ende von Unzulänglichkeit, Unvollkommenheit und Leiden, und zwar im umfassenden Sinn. Sie ist das völlige Aufhören von Schmerz und Angst, von Ungeborgenheit und Sehnsucht, Unwissen und Orientierungslosigkeit. Für dieses höchste Ziel steht im Buddhismus der Ausdruck Nirvana. Er bezeichnet absolute Vollkommenheit, unvergänglichen Frieden und Glück, ohne Ende und ohne jede Einschränkung. Befreiung wird realisiert, wenn alle (negativen) geistigen Triebkräfte enden. Wenn „Nichtwissen" aufhört und „Verlangen" und „Aversion" schwinden. So gesehen ist der buddhistische Schulungsweg eine Praxis des Loslassens und nicht eine des Ergreifens und Festhaltens.
Unter diesen Voraussetzungen einer besonderen Weltwahrnehmung wird der Stellenwert von Weltgestaltung in der buddhistischen Tradition verständlich. Solange wir in der Welt leben, tragen wir eine besondere Verantwortung und stehen vor einer wichtigen Aufgabe. Was immer wir tun - im Denken, Reden und Handeln - orientiert sich daran, wie das menschliche Zusammenleben harmonischer und friedlicher und die allgemeinen Lebensbedingungen angemessener und befriedigender gestaltet werden können.
Ethisches Verhalten ist in besonderem Maße geeignet dazu beizutragen, weil es auf Interessenausgleich, gegenseitige Achtung und Wertschätzung setzt und damit individuelles wie gesellschaftliches Leid mindert. Und dennoch: Weltgestaltung hat aus buddhistischer Sicht nur eine begrenzte Bedeutung, denn dem Eingreifen in die Wirklichkeit mit der Absicht, sie lebenswerter, schöner und befriedigender zu machen, sind enge und unüberwindbare Grenzen gesetzt. Eine perfekte der Welt kann es nicht geben, kein Handeln kann sie verwirklichen. Wer, wie jede Buddhistin und jeder Buddhist, die völlige Freiheit von Leiden und Unzulänglichkeit anstrebt, wird sie innerhalb der phänomenalen Welt letztlich nicht finden. Sie ist vielmehr in ihrer Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit zu durchschauen und zu transzendieren.
Hierzu bedarf es einer umfassenden Transformation der menschlichen Persönlichkeit, und zu nichts anderem will der „Achtfache Weg" des Buddha verhelfen. Er versteht sich als ein anspruchsvolles Übungs- und Lernprogramm, das darauf abzielt, das in jedem Menschen angelegte geistige Potential zu entfalten und auszuschöpfen und es zu seiner Befreiung zu nutzen.