Alfred Weil
Vor gut einem halben Jahrhundert sind die „Sammlungen in Versen" aus den „Reden Gotamo Buddhos" in der Übersetzung Karl Eugen Neumanns bei Artemis (Zürich) und Paul Zsolnay (Wien) erschienen. Es gibt zwei gute Gründe, dieses bedeutende Werk wieder - und gerade jetzt - zugänglich zu machen: Der eine ist der Wunsch, eine Lücke in dem schon sehr umfassenden Angebot des Verlages an Texten aus dem Palikanon zu schließen; der andere Grund ist die 150. Wiederkehr des Geburtstages und die 100. des Todestages Karl Eugen Neumanns am 18. Oktober 2015. Zu diesem zweifachen Gedenktag möchte der Verlag den großen buddhistischen Pionier und herausragenden Übersetzer Neumann durch die Herausgabe des vorliegenden Bandes würdigen.
Wenn der Buddha seinen Belehrungen besonderes Gewicht verleihen wollte, bediente er sich oft der Versform. In klangvollen Strophen fasste er dann den Kern seiner Aussagen zusammen und sprach so Verständnis und Gemüt seiner Zuhörer noch stärker an. Viele Hunderte dieser Verse sind in verschiedenen Sammlungen als Teil des Khuddaka-Nikáya überliefert.
In der vorliegenden Ausgabe werden vier der wichtigsten vorgestellt. An der Spitze steht die ‚Sammlung der Bruchstücke‘ (Suttanipáta) mit ihren überaus dichten und tiefgreifenden existenziellen Aussagen. Nach allgemeiner Einschätzung stammen diese Dichtungen aus der frühesten Periode der Lehrdarlegung. Dabei besitzen die Texte keineswegs einen fragmentarischen Charakter, wie der Titel vermuten lässt. Ihr folgen die ‚Lieder der Mönche‘(Theragátha) und die ‚Lieder der Nonnen‘ (Therígátha). Sie beinhalten oft sehr persönliche Zeugnisse von befreiten Nachfolgerinnen und Nachfolgern des Erwachten, die in berührender Weise über ihren inneren Werdegang berichten. Sie beschreiben ihre einstige existenzielle Not, ihre Begegnung mit dem Buddha und dessen Lehre und ihren oft dramatischen Kampf bis zur endgültigen Freiheit. Die berühmteste und zugleich populärste Sammlung stellt der ‚Wahrheitpfad‘ (Dhammapada) dar. Er umfasst 423 Versstrophen des Buddha, in denen dieser den Kern seiner Lehre in ebenso konzentrierter wie klarer und poetischer Weise darlegt. Wohl kein buddhistischer Text aus der ältesten Überlieferung ist bekannter und wird höher geschätzt als dieser. Dafür sprechen schon die zahlreichen Übersetzungen allein in die deutsche Sprache.
Die entscheidenden Teile aus dem Palikanon liegen inzwischen in deutscher Sprache vor. Dabei ist die bisher größte Übersetzungsleistung Karl Eugen Neumann (18.10.1865-18.10.1915) zu verdanken. Er übertrug nicht weniger als sechs Sammlungen vollständig, so viel wie keiner vor und bisher keiner nach ihm. Und er vollbrachte diese Leistung unter weitaus schwierigeren Bedingungen als sie heute gegeben sind. Damit ist er einer der großen Pioniere auf diesem Gebiet und hat unzähligen Menschen einen Zugang zu den Lehren des Erwachten ermöglicht. Eine universitäre Karriere - als exzellenter Indologe, der er war - hatte er nie im Auge. Sein Leben war dem Buddha-Dhamma gewidmet, wie er ihn in den Palitexten vorfand, welche er unter großen persönlichen Opfern übersetzerisch und kommentierend erschlossen hat.
Es ist nicht übertrieben, dies eine kulturelle Großtat zu nennen. Viele namhafte Dichter im In- und Ausland wussten diese Arbeit zu würdigen, unter ihnen nicht wenige Literatur-Nobelpreisträger. Hermann Hesse und Gerhart Hauptmann gehören dazu ebenso wie Thomas Mann, Karl Gjellerup oder Bernhard Shaw und andere. Sie alle erkannten das sprachliche Genie und die bemerkenswerte Ausdruckskraft Neumanns. Positive Stimmen aus dem wissenschaftlichen Lager gab es ebenfalls, beispielsweise von Edmund Husserl, Carl Gustav Jung oder Carl Friedrich von Weizsäcker. Das Urteil der indologischen Fachgelehrten blieb hingegen geteilt. Kein gutes Haar an der übersetzerischen Leistung des in Wien geborenen und verstorbenen Neumann ließ der Königsberger Indologe Rudolf Otto Franke. In der Folge richteten Neumann und Franke dann sogar erbitterte Polemiken gegeneinander. Andere Kollegen äußerten sich je nachdem eher zustimmend oder differenziert. Die Gründe der Kritik mochten ganz unterschiedlicher Natur sein: sachlich berechtigte Einwände, unausgesprochene Animositäten oder persönliche Eitelkeiten.
Karl Eugen Neumann war sowohl ein ausgezeichneter Kenner der alten indischen Literaturen als auch ein ansonsten umfassend gebildeter Mann. Zudem war er ein Künstler der Sprache. Seine Übertragungen atmen diesen künstlerischen Geist, dem es nicht nur um die sachgetreue Wiedergabe von Themen und Inhalten ging. Neumann wollte den Lehrreden des Buddha auch eine ihnen angemessene sprachliche Form verleihen.
Wer kann wirklich nachempfinden, welche unendliche Mühe es ihn gekostet hat, sich tief in diese alten und ehrwürdigen Texte einzuspüren, ihren auch verborgenen Gehalt intuitiv zu erfassen und sie kongenial ins Deutsche übertragen? In einem Brief schrieb er einmal, dass er keinen einzigen Vers übersetzte, ohne ihn vorher auswendig zu lernen, und gelegentlich an „bloßen vier Zeilen zwei und drei volle Tage gearbeitet" hat.
Bei der Übertragung der Verse ging es Neumann besonders darum, den Rhythmus und den Klang des Pali-Originals zu erfassen und getreu wiederzugeben. Im Gegensatz zu anderen Übersetzern war ihm die Berücksichtigung des Metrums unverzichtbar, während er auf Endreime in aller Regel nicht zurückgriff. Allerdings kann man Neumann gerade bei den Versen manche sprachliche Extravaganzen nicht absprechen. Das Verständnis der ohnehin nicht eben leicht verständlichen Texte wird stellenweise durch Neumanns ungewöhnliche Wortschöpfungen und unkonventionelle Wortfolgen noch erheblich erschwert. Der ehrwürdige Nyanaponika spricht in Bezug auf Teile der ‚Bruchstücke‘ sogar von „Variationen über Themen aus dem Sutta-Nipáta".
Ungeachtet dieser semantischen Erschwernisse haben wir hier eine Übersetzungsleistung vor uns, die ihresgleichen sucht und deren Wert ungeschmälert bleibt. Sie eröffnet dem, der auf eine stille und kontemplative Weise in die Weisheit der buddhistischen Lehren eindringen will, einen reichen Schatz.
Aus praktischen und vor allem ökonomischen Gründen hat sich der Verlag zu einer fotomechanischen Wiedergabe der eingangs erwähnten Ausgabe entschlossen. Lediglich die dort noch zu findende Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Karl Eugen Neumann und seinem italienischen Freund Giuseppe de Lorenzo wurde nicht mehr aufgenommen. Sie scheint heute entbehrlich.
Stattdessen findet die im Anhang auszugsweise wiedergegebene ‚Buddhistische Anthologie‘ hier eine wertvolle Ergänzung. In seiner ‚Anthologie' hatte Neumann 1892 eine Auswahl seiner ersten Übersetzungen kürzerer Reden des Erwachten aus verschiedenen Sammlungen des Palikanons der Öffentlichkeit vorgelegt. In dem vorliegenden Band kommen Beispiele späterer, das heißt besonders reifer Übertragungen von Sutten aus dem Samyutta Nikáya und aus dem Anguttara Nikáya hinzu, die sich bisher - eher versteckt - in den Anmerkungen der Längeren Sammlung und der Bruchstücke finden. Dort verweisen sie auf die jeweiligen Versstrophen unserer Ausgabe und stellen so eine wertvolle Bereicherung dieses Bandes dar.
In: Hellmuth Hecker: Jesus als Mystiker. Eine buddhistische Perspektive, Stammbach 2014 (Beyerlein & Steinschulte)