Wozu ist Religion gut? Welche Rolle spielt sie im Leben des einzelnen, und welche gesellschaftliche Bedeutung kommt ihr heute zu? Und was macht eine Religion zukunftsfähig?
Vielfach besteht Unsicherheit, ob man solche Fragen in einer weitgehend säkularisierten Welt überhaupt noch stellen kann. Ja, man kann und man muß sie stellen, denn Religion hat ihre Daseinsberechtigung keineswegs verloren. Weil sie auf ewige Menschheitsfragen antwortet, ist sie stets aktuell, und weil sie auf zentrale existentielle Anliegen eingeht, bleibt sie unentbehrlich.
Eine Grundsehnsucht aller empfindender Wesen ist: Sie möchten das Unangenehme vermeiden und das Angenehme erreichen und behalten. Sie fürchten körperlichen Schmerz und Unwohlsein. Sie möchten von Sorge, Trauer, Angst und Unwissenheit frei sein, und sie suchen Harmonie und Verständnis, Zufriedenheit und Erfüllung. Alle Anstrengungen zur Befriedigung ihrer materiellen, sozialen, geistigen und seelischen Bedürfnisse haben dasselbe Ziel: Glück und Zufriedenheit.
Dabei wird eines bei näherem Hinsehen klar. Weltliche Bemühungen haben wohl ihre Bedeutung, aber sie sind letztlich doch unzulänglich. Sie greifen zu kurz. Alter, Krankheit, Tod und Verlust zeigen sich von ihnen unberührt, denn sie können durch keine noch so geschickte Maßnahme beseitigt werden. Auch die Frage nach dem „Sinn des Lebens" und nach seinen Gesetzen bleibt unbeantwortet. Warum erlebe ich so vieles, was meinem Innersten widerstrebt? Und warum das gerade nicht, wonach ich mich von ganzem Herzen sehne? Was soll das Ganze überhaupt? Solche Fragen sind historisch nie überholt, und sie drängen sich auch in unserer sogenannten Wohlstandsgesellschaft auf. Trotz materiellen Reichtums und einer Vielzahl von Genußmöglichkeiten empfinden wir eine innere Leere und Ungeborgenheit - von der zunehmenden Unrast ganz zu schweigen.
Wir vermissen etwas wirklich Tragfähiges und suchen Sicherheit und inneren Frieden, suchen ein vollkommenes und unvergänglichem Wohl, das über den Tag hinaus Bestand hat. Und hier wurzeln die ausgesprochenen oder stillen Hoffnungen gegenüber den Religionen. Zu recht, denn genau das sind ihre Grundanliegen und Angebote. Tatsächlich versprechen die Religionen über die kleinen und alltäglichen Momente der Freude hinausgehende und ganz unvergleichliche Möglichkeiten des Glückes. Und sie geben konkrete Hilfestellungen auf dem Weg dahin.
Der Buddha sagt: „Wie das große Weltmeer nur einen einzigen Geschmack hat, nämlich den des Salzes, so hat meine Lehre ebenfalls nur einen Geschmack, den der Erlösung." Und dieser Anspruch gilt in einem absoluten Sinn: Erlösung bedeutet für ihn eine wahrhaft und ein für allemal „heile" Situation - ohne zeitliche Begrenzung und qualitative Abstriche. Befreiung ist für ihn die völlige Überwindung von jeder Unzulänglichkeit und von allem Leiden. Sie ist Erfüllung und Geborgenheit schlechthin.
Dieses höchste Ziel, für das im Buddhismus Nirvana steht, stellt die dementsprechend höchsten Anforderungen an eine religiöse Lehre. Und zwar in einer doppelten Hinsicht: Sie muß eine völlig klare Sicht der Lebenswirklichkeit und eine vollkommene Anleitung für die Verwirklichung der Befreiung beinhalten.
Daß beides für die Darlegungen des Buddha zutrifft, ist die Überzeugung der Buddhistinnen und Buddhisten seit Anfang an. Nun ist die buddhistische Tradition mittlerweile mehr als 2500 Jahre alt. Wie zeitgemäß können ihre Aussagen heute noch zu sein, und wie kann eine so alte Religion eine Religion der Zukunft sein?
Wir erleben gegenwärtig einen rasanten und umfassenden Wandel aller Lebensumstände. Er erfolgt schneller und tiefgreifender als je zuvor in der überschaubaren Geschichte der Menschheit. Technisierung und Digitalisierung beherrschen Produktion und Erwerbsleben. Internationalisierung und Globalisierung sind Stichworte für die Art und Weise, wie der Austausch von Waren, Dienstleistungen, Kapital und zunehmend auch von Informationen vonstatten geht. Vielfalt und Differenzierung charakterisieren mehr und mehr den Erfahrungshintergrund und den Lebensrhythmus der Menschen. Aber auch Entsolidarisierung, Egozentriertheit und Rücksichtslosigkeit im sozialen Bereich sind festzustellen.
Mit der Umwälzung der vertrauten Lebensgrundlagen und der überkommenen Gesellschaftsformen ändert sich auch das dominierende Lebensgefühl. Will man seinen Beobachtungen glauben, macht sich eine tiefe Verunsicherung breit, bei manchen sogar regelrecht Zukunftsangst. Da ist die Sorge berechtigt, ob die Religionen hier „Schritt halten" und auf diesen Wandel angemessen reagieren.
Auf einer bestimmten und eher oberflächlichen Ebene trifft das sicher zu. Das zeitgetaktete elektrische Licht hat in vielen Kirchen die Opferkerze schon ersetzt. Das christliche Almosen und das buddhistische dana können problemlos per Bankeinzug oder Scheckkarte erbracht werden. Jesus und Buddha sind längst im Internet präsent und ihre Reden auf CD-ROM erhältlich. Sogar die Beichte per Computer und technische Meditationshilfen sind bereits erfunden. Religiöse Gemeinschaften sind „vernetzt" und über Ländergrenzen hinweg elektronisch miteinander verbunden. Die sich etablierende Informationsgesellschaft hat dem Westen Kenntnisse über asiatische Religionen beschert, die vor wenigen Jahren kaum mehr als dem Namen nach bekannt waren und noch ausgesprochen „exotisch" anmuteten. Der Buddhismus gehört dazu.
All das darf nicht von einer Tatsache ablenken: Für Religionen gelten prinzipiell andere Maßstäbe als im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfeld, das gerne mit und aus dem Zeitgeist lebt. Für sie sind existentielle und das heißt „zeitlose" Themen wesentlich. Neu und alt sind keine treffenden Kriterien. Ausschlaggebend ist, ob und wie ihre Lehren die eingangs genannten Uranliegen und Sehnsüchte des Menschen berühren. Die eigentlichen Fragen der Religionen sind deshalb „alt". Allenfalls ihre Formulierungen sind „zeitgemäß" und nehmen auf die jeweiligen historisch bedingten Lebensumstände Bezug. Ihre Antworten sind nicht minder „alt", denn in ihnen kommen stets gültige Wahrheiten zum Ausdruck, und lediglich die sie vermittelnden Bilder, Worte und Ausdrucksformen sind „up to date".
Meine These ist: Die Lehre des Buddha (dharma) ist eine Religion mit allen erforderlichen Eigenschaften, von denen bisher die Rede war. In den Aussagen des Erwachten spiegeln sich die tiefsten Einsichten in die Daseinswirklichkeit, und sie beinhalten präzise und vollständige Hinweise für die spirituelle Praxis. Bezogen auf das ausgehende 20. Jahrhundert und seine Tendenz der Globalisierung fast aller Lebensbereiche sticht in diesem Zusammenhang ein charakteristischer und besonders hilfreicher Grundzug des Buddhadharma heraus: seine unübertroffene Universalität. Sie soll an drei Punkten verdeutlicht werden.
Wir Menschen haben unterschiedliche Anlagen und Charaktere, Talente und Schwächen. Nicht weniger facettenreich sind unsere Lebenssituationen und die äußeren Gegebenheiten. Religion darf nicht exklusiv sein, sie darf niemanden und nichts ausschließen. Sie ist vielmehr eine Einladung an alle Menschen, die anzunehmen lediglich ein Minimum an Offenheit und Verständnis erfordert.
Entsprechend vielseitig können die Berührungspunkte mit dem Buddhismus sein. Da ist seine rationale Seite. Sie richtet sich auf unsere intellektuellen Interessen und Begabungen und erfüllt unsere tiefe Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis. Die Lehren des Buddha sprechen genauso unsere Gefühls- und Empfindungsseite an. Sie befähigen uns zu einem fruchtbringenden Umgang mit unseren seelischen Kräften und Fähigkeiten, aber auch mit unserem Problemen und Defiziten. Der Buddhismus macht darüber hinaus ein Angebot an eher stille, verinnerlichte Menschen, denen er die Meditation als möglichen Weg der Vervollkommnung weist. Ebenso gibt er Hinweise für das (nach außen gerichtetes) Handeln. Buddhas Reden enthalten eine Vielzahl von Empfehlungen für das ethische Verhalten und verläßliche Maßstäbe für unsere sozialen und kulturellen Aktivitäten. Auch die Bedeutung der Sinne und des Körpers ganz generell wird keineswegs vernachlässigt. Zahlreiche körperbezogene Übungsformen gibt es, die das Training bewußter Wahrnehmung und Bewegung sowie Energiearbeit einschließen. Schließlich soll die künstlerische Annäherung an die buddhistische Spiritualität erwähnt werden und die in einigen Traditionen stark betonten rituellen Elemente.
Der gelebte Buddhismus von heute umfaßt alle diese Aspekte, und diese kurze Aufzählung ist sicher nicht einmal vollständig. Allerdings darf man diese Vielseitigkeit nicht mit Beliebigkeit verwechseln. Es geht nicht darum, sich davon lediglich irgend etwas herauszupicken, was einem gerade schmeckt - so wie man sich aus einer Speisekarte ein wohlschmeckendes Menü zusammenstellt. Hier geht es um verschiedene Zugangsmöglichkeiten, die das Näherkommen und Kennenlernen erleichtern, die Brücken zwischen Vertrautem zu Neuem bauen. „Persönlichkeitsentwicklung" aus buddhistischer Sicht ist stets ganzheitlich angelegt. Sie zielt auf den „ganzen Menschen", auf die Vervollkommnung aller seiner Lebensäußerungen, und sie beinhaltet das Bemühen um
Dieser „Achtfache Weg" (atthangika magga) ist ein geniales pädagogisches Konzept des Buddha, das die drei unabdingbaren Bestandteile einer jeden spirituellen Praxis umfaßt und in einzelne Übungsbereiche auffächert. Diese drei - Ethik (sila), Meditation (samadhi) und Weisheit (panna) - betreffen unsere äußeren Aktivitäten beziehungsweise unser Verhältnis zu den anderen Menschen; sie betreffen den Umgang mit unseren Empfindungen, Emotionen, Gedanken und Gewohnheiten sowie die direkte, unmittelbare Schau der Natur des Geistes und der Dinge.
Universalität bedeutet in diesem Zusammenhang, daß alle wichtigen Aspekte der Persönlichkeit angesprochen sind. Es gilt, das gesamte geistige und seelische Potential des Menschen zu entdecken und entfalten. Alle Lebensbezüge müssen thematisiert und in einer heilsamen Weise gestaltet werden.
In der westlichen Welt kommt dem „Ich" eine alles überragende Bedeutung zu. Oft gilt das Ego als höchste Instanz, es ist Maßstab und Leitlinie. Die (in aller Regel naive und falsche) Identifikation mit den eigenen Vorstellungen und Zielen führt indessen zu einer fatalen Überbewertung der Befriedigung individueller Bedürfnisse, Anliegen und Wünsche und lenkt das gesamte Leben. Und was dabei übersehen wird: Gerade diese Fixierung und Übersteigerung ist der Ausgangspunkt für unnennbaren Schmerz, Elend und Leiden.
Der Buddha hat alle Facetten der Ich-Illusion durchschaut. Vor allem hat er gezeigt: Das „Ich" ist kein isoliertes, eigenständiges, für sich bestehendes Etwas. Die Individuen sind keine unabhängigen, autonomen Einheiten. Der Buddha erkannte vielmehr ihre umfassende Bezogenheit aufeinander und die wechselseitige Abhängigkeit voneinander. Menschliche Existenz ist nicht nur mit, sondern nur durch den anderen möglich. Das betrifft nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen (Arbeitsteilung bei der Produktion, Austausch von Waren), familiäre Bindungen, das Verhältnis der Generationen und so weiter, wo das unmittelbar einleuchtend ist. Vielmehr ist ein ganz elementarer, aber subtiler Tatbestand gemeint: Ich und Welt bestehen aus buddhistischer Sicht überhaupt nur in und durch ihre Wechselbeziehung.
Diese Einsicht ist nicht nur von „philosophischem" Interesse, sie hat als Grundtatsache des Daseins weitreichende praktische Konsequenzen. Wo nichts abgetrennt und losgelöst von allem anderen existiert, wird mit einemmal das Ganze so wichtig wie das Einzelne. Der Zustand des Ganzen und der seiner Teile bedingen sich wechselseitig. Dauerhaftes persönliches Glück ist nicht ohne Rücksicht auf den Mitmenschen und erst recht nicht im Widerspruch zu seinen Interessen erreichbar.
Wechselbeziehung ist auch Wechselwirkung, und das bringt uns zu einem weiteren zentralen Aspekt des buddhistisches Weltbildes, das unseren gewohnten Anschauungen diametral entgegensteht. Während wir im Westen eher einem statischen Denken verhaftet sind und wie selbstverständlich vom „Sein" der „Dinge" ausgehen, lehrt der Buddha das „Werden". Wo wir mit Gegenständen, mit Materie, Substanz - also mit festen Größen - rechnen, sieht er Geschehen, Prozesse, Dynamik. Er begreift das Dasein als fließende Veränderung, als ständiges Entstehen und Vergehen, Auftauchen und Verschwinden. Es ist ein stetiger Fluß der Ereignisse.
Und: Wirklichkeit ist ihm Wirk-lichkeit. Sie ist nicht nur geworden, sondern sie ist auch geschaffen. Alle Phänomene sind Ergebnis von Aktivität. Jedes Welterlebnis, jede Erfahrung, jedes Geschehnis ist das Ergebnis eigenen Wirkens (karma). Die Welt ist ein Spiegel, sie ist der Reflex des eigenen Tuns und Lassens und der Beschaffenheit des „Herzens".
Nach dem Buddha gibt es einen generellen Zusammenhang zwischen dem Erleben und dem Handeln (Karma-Gesetz). Man kann diesen Sachverhalt auf eine vereinfachte und griffige Formel bringen: Was von uns (als Tat) ausgeht, kommt zu uns (als Erlebnis) zurück. Verhalten schafft Verhältnisse. Ethisch einwandfreie Handlungen bringen menschenwürdige Lebensbedingungen hervor. Heilsames Tun hat heilsame Ergebnisse. Und umgekehrt erzeugen üble Machenschaften Elend und beklagenswerte Umstände. Uns begegnet nichts Fremdes, sondern nur Dinge, Situationen, und Menschen, in denen wir uns selbst wiedererkennen können. „Das bist Du", hieß es deshalb schon im alten Indien.
Wer das begreift, sieht die essentielle Gleichheit aller Wesen und durchschaut ihr vermeintliches Getrenntsein als Täuschung. Die im Buddhismus selbstverständliche Aufforderung, sich gegenüber allem Lebendigen verantwortlich und rücksichtsvoll zu verhalten, hat hier ihr Begründung. Das gilt für Menschen und Tiere gleichermaßen, die sich nur graduell und nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden. Selbst das Verhältnis zur unbelebten Umwelt wird unter diesen Vorzeichen ein anderes. Vernachlässigung, rücksichtslose Ausbeutung oder gar mutwillige Zerstörung verbieten sich nun fast wie von selbst.
Ein tieferes Verständnis der „Welt" beinhaltet also: Alle Daseinserscheinungen bestehen nur in Abhängigkeit voneinander. Sie sind bedingt entstanden, ihre Ursache ist (karmisches) Wirken, ihr Wesen Entstehen und Vergehen. Mit der Wandelbarkeit aller Dinge ist deren Beeinflußbarkeit gegeben. Wo nichts „ist", kann alles „werden". Als Akteure haben wir es in der Hand, die vorhandenen Gestaltungsspielräume gezielt zu nutzen und entsprechend zu handeln. Wir können sie als Chance zur Befreiung nutzen.
Die Quintessenz aus dem bisher Gesagten (über das universelle Glücksstreben und die universelle Bezogenheit aller Wesen) läßt sich mit den schlichten Worten des berühmten Metta-Sutta formulieren. „Mögen alle Wesen glücklich sein!" Die Betonung in diesem Satz ist zweifach, denn er drückt den Wunsch aus, daß die Wesen glücklich sein mögen, und zugleich, daß sie es alle sein sollen. Und genau das ist die zentrale Botschaft des Buddhismus.
Welche praktischen Folgerungen ergeben sich daraus? Wie wird aus dem Wunsch Wirklichkeit? Ansatzweise sind beide Fragen mit dem Hinweis auf den „Achtfachen Übungsweg" schon beantwortet. An dieser Stelle möchte ich aber einen seiner Hauptaspekte wieder aufgreifen, weil er sich ganz direkt auf das Zusammenleben der Menschen bezieht: die Rolle der Ethik.
Die Empfehlungen des Buddha für ein moralisch einwandfreies Denken, Reden und Handeln beinhalten fünf verbindliche und unumstößliche Vorgaben für das Verhalten. Wer sich an diese fünf sila hält, übt sich darin, vom Töten und Verletzten lebendiger Wesen abzusehen, Nichtgegebenes nicht zu nehmen, unrechtmäßige sexuelle Beziehungen zu vermeiden, nicht zu lügen und auf Alkohol und andere bewußtseinstrübende Mittel zu verzichten. Die Allgemeingültigkeit dieser Regeln, sagt der Buddha, war nie außer Kraft, und sie finden sich in ihren Grundzügen in allen Religionen. Sie sind aus einem erwachten Geist geborene und in der Lebenswirklichkeit erprobte Ratschläge und keine Ge- oder Verbote.
Ihr lebensnaher Maßstab heißt: Handele so, wie du selbst behandelt werden möchtest. Versetze dich in die Haut des anderen, empfinde sein Denken, sein Fühlen und Wollen nach. Lerne anhand deiner eigenen inneren Stimme die Wirkungen Deines Tuns auf andere abzuschätzen. Bei der Einhaltung oder Nichteinhaltung der sila ist nicht die äußerlich sichtbare Tat entscheidend, sondern die hinter ihr stehende gute oder schlechte Absicht. Unser nach außen gerichtetes Handeln ist nur ein Ausdruck unserer Einstellungen und Motive. Die buddhistische Ethik zielt daher vor allem auf die Kultivierung des menschlichen Geistes.
Zunächst gilt es, alle negativen und schädlichen inneren Haltungen ablegen. Haß, Ablehnung, Ärger, Zorn, Neid, Gereiztheit, Rücksichtslosigkeit und Grobheit sind Beispiele. Solange sie zu unseren Charaktereigenschaften gehören, bleiben Fehlverhalten und seine negativen Folgen nicht aus. Und umgekehrt geht es darum, die guten Herzensqualitäten zu entwickeln und ein universelles Wohlwollen zu entfalten. In Rücksicht, Großzügigkeit, Freundlichkeit, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Offenheit und so weiter drückt es sich aus. Im Buddhismus gelten Güte, Mitempfinden, Freude und Gelassenheit als die einzig angemessenen Motivationen. Sie genießen eine solche Wertschätzung, daß sie sogar „göttliche Zustände" (brahmavihara) genannt werden. Sie sind uns Menschen keineswegs fremd, aber bei uns doch nur sehr begrenzt vorhanden. In ihrer höchsten und reinsten Ausprägung sind sie „himmlischer" Natur und übersteigen menschliche Maßstäbe. Sie verwirklichen die universelle Ich-Du-Gleichheit und machen keine Unterschiede mehr zwischen „Ich" und „Du", „Mein" und „Dein".
Ein Buddha ist ein Wesen, das zur vollen Wirklichkeit erwacht ist. Seine Sicht geht nicht nur über das unmittelbar vor Augen Liegende hinaus, sie ist uneingeschränkt. Hier ist Über-Blick über die gesamte Existenz, vollständiger Ein-Blick in alle Lebensformen und -äußerungen. Dazu gehören insbesondere Fortexistenz und Wiedergeburt. Was im Westen für viele eine offene Frage ist oder sogar strikt verneint wird, ist für den Buddha offensichtlich: das Leben jenseits des Todes und eine Vielfalt von Erlebnisweisen jenseits der beschränkten Sinneserfahrung. Nach seinen Worten ist der Daseinsprozeß von sich aus unbegrenzt und umfaßt ein ungeheures Spektrum von Entfaltungsmöglichkeiten, übermenschliche und untermenschliche.
Eine wesentliche Dimension des Religiösen ist der Bezug zur Transzendenz. Religion muß beides sehen - das „Diesseits" und das „Jenseits"- und die Beziehung beider zueinander erhellen. Nicht immer gelingt das auf eine zufriedenstellende Weise, wie die Geschichte zeigt. Stets besteht die Gefahr der Vereinseitigung. Das eine Extrem ist die Verweltlichung der Religion. Sie beschränkt sich dann nicht selten allein auf soziale und karitative Aktivitäten und wird zum bloßen Politikersatz. Eine solche einseitige Diesseitsorientierung macht Transzendenz vergessen. Sie sieht nicht einmal mehr über den (sogenannten) Tod hinaus und führt zum Verlust einer umfassenden Perspektive. Damit ist die Existenzberechtigung einer Religion überhaupt in Frage gestellt, und irgendwann wenden sich die Menschen ab.
Das andere Extrem gibt es freilich auch: die Leugnung der konkreten und drängenden Probleme der Gegenwart. Eine überbetonte Jenseitsorientierung übersieht die Bedeutung der Religiosität im Alltag. Wie schnell kommt es bei allem und jedem zur Vertröstung auf eine kommende Zeit, zur bloßen Beschwichtigung und so - gewollt oder ungewollt - zur Stabilisierung inakzeptabler persönlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse. Dogmatische Erstarrung und lebensfremdes Theoretisieren sind zusätzliche Begleiterscheinungen. Auch in diesem Fall kehren die Menschen der Religion den Rücken.
Ein Dichterwort sagt zu recht: „Schau nach den Sternen, aber hab' acht auf die Gassen." Religion darf weder das Naheliegende übersehen noch das Ferne vergessen. Sie braucht gleichermaßen den unmittelbaren Bezug zum „Heute" und die „Ewigkeit" als Maßstab. Sie muß die relativen und die absoluten Wahrheiten kennen und beherzigen. Im Buddhadhamma kommt beides zusammen. Er lehrt tiefe Meditation und Aufmerksamkeit und Verantwortung im Beruf. Er lehrt das Nirvana und die Rücksicht in der S-Bahn.
Der Buddha macht zwei Arten von Aussagen über die Realität. Manche enthalten mehr oder weniger offensichtliche und unmittelbar nachvollziehbare Wahrheiten. Andere lassen sich dagegen nicht so ohne weiteres als richtig bestätigen. Von Transzendenz, von Fortexistenz und Wiedergeburt und von dem Karma-Gesetz war die Rede. Und gerade sie ziehen weitgehende Konsequenzen für das Verhalten nach sich, wenn man sie als gültig anerkennt.
In dieser Situation sind drei prinzipielle Haltungen denkbar. Möglicherweise lehnt man derartige „unbewiesene" Aussagen kategorisch ab. Oder man unterwirft sich bezüglich ihrer Richtigkeit einem blinden Glauben, im Zweifel auch gegen jede Vernunft. Oder aber man bewahrt eine grundsätzliche Offenheit, akzeptiert wenigstens die Möglichkeit einer „anderen Realität" und faßt sie im Sinne einer vorläufigen Arbeitshypothese.
Der Anspruch des Buddha ist eindeutig. Er behauptet mit Nachdruck, ausschließlich Erkanntes zu lehren. Keine bloße Theorie, nichts Erdachtes, nichts, was auf bloßen Schlußfolgerungen oder gar Spekulationen beruht. Er bezeugt hinsichtlich seiner Person eine absolute Identität von Lehre und Einsicht in die Wirklichkeit und verweist bei allen seinen Mitteilungen auf authentische Erfahrung.
Das gilt nicht allein für den historischen Buddha Siddhartha Gautama, sondern für alle Buddhas der Vergangenheit und der Zukunft. Buddhas bezeichnen sich selbst als Entdecker oder Wiederentdecker eines im Laufe der Zeiten immer wieder verloren gegangenen Weges zum Wissen und zugleich als Wegweiser für andere Suchende. Wer diesem Pfad folgt, kommt an das beschriebene Ziel. Das setzt voraus, daß jeder Mensch das Potential zur Einsicht besitzt und daß die Verwirklichung der höchsten Wahrheit prinzipiell für alle möglich ist. Aber andererseits gilt genauso: Befreiung ist auch nur durch Einsicht in die (letzte) Wirklichkeit möglich. Nur wer die Natur der Dinge durchschaut, nur wer die Realität vollständig begreift, kann Vollkommenheit erreichen. Aus diesem Grund spielen im Buddhismus Wissen und Weisheit eine so unvergleichliche Rolle. Die Wirklichkeit ist Maßstab, Ziel und Weg zugleich.
Die buddhistischen Lehren sind eine Einladung, die Gegebenheiten des Lebens selbst zu prüfen und selbst zu sehen. Eine solche Einladung anzunehmen und sich auf ihre sehr weitreichenden Folgen einzulassen, setzt in einem hohen Maß Vertrauen voraus. Es bedarf der Unvoreingenommenheit und des Mutes, die gewohnten Sichtweisen hinter sich zu lassen und sich Neuem zu öffnen. Ohne Zuversicht, ohne eine wenigstens leise Ahnung von der Richtigkeit und der Tragfähigkeit dieses spirituellen Weges geht es nicht. Doch darf dieses Vertrauen nicht blind sein und alleine stehen. Es muß seine Bestätigung durch die eigene Praxis finden. Ein solches Vertrauen ist begründet und kein blinder Glaube. Und man hat es nur so lange, bis eigene Erfahrung und Einsicht an seine Stelle treten.
Die Ganzheitlichkeit des buddhistischen Ansatzes wird an dieser Stelle erneut ersichtlich, und der vermeintliche Gegensatz zwischen „Glauben" und „Wissen" löst sich auf. Niemand braucht sich für das eine und gegen das andere zu entscheiden. Beide brauchen und fördern einander.
So gesehen müssen Wissenschaft und Religion kein unauflösbarer Widerspruch sein, wie man oft meint. Der Buddhadharma begreift sich als Religion und Wissenschaft zugleich: Religion ist er, weil er Brücken zu einer anderen, höheren und befreienden Wirklichkeit baut. Er ermöglicht die Rückbindung (re-ligio) zu dem „ganz Anderen", zu dem über das unmittelbar Sichtbare Hinausreichenden, letztlich zum Unbedingten. Wissenschaft ist er, weil die gründliche, systematische und unvoreingenommene Erforschung der Realität seine Basis ist; weil die Nachprüfbarkeit seiner Entdeckungen gegeben ist und weil die detaillierte Vermittlung der Methoden der Wahrheitsfindung zu seinen Aufgaben zählt.
Die großen Religionsstifter lehren ihre Anhänger, sich eine angemessene Sicht der Wirklichkeit zu erwerben und sich so weit wie möglich ihr entsprechend zu verhalten. Das bringt nicht selten große Veränderungen der Persönlichkeit mit sich. Diese Transformation ist ein individueller Vorgang, der in jedem von uns stattfinden kann und genau dort stattfinden muß. Doch sind wir nicht auf uns alleine gestellt, weil uns eine Gemeinschaft (sangha) von Mitsuchenden und Mitübenden bei unseren Bemühungen begleiten kann und vor allem weil spirituelle Lehrer und Vorbilder uns unterstützen.
So entstehen religiöse Institutionen und Traditionen, die in einer mehrfachen Weise Halt und Hilfe bieten. Ein Problem beginnt dort, wo die eingeführten Formen der gemeinschaftlichen Praxis überbewertet und wo sachfremde Interessen stark werden. Tradition verkommt dann oft zum Selbstzweck. Auf einmal ist eine bestimmte Formulierung einer Wahrheit wichtiger als ihr Gehalt. Die historisch bedingte und kulturell geprägte Form des spirituellen Lebens wird plötzlich bedeutsamer als seine Ziele und Inhalte. Die Vermittler der Lehren stehen mit einemmal im Mittelpunkt, werden irgendwann zu bezahlten Fachleuten, Funktionären oder am Ende zu machtgewohnten „Gurus". Die spirituellen Gemeinschaften mutieren zu unüberschaubaren und starren Institutionen mit einer unwiderstehlichen Neigung zu Bürokratie und zu Sonderinteressen. Darüber droht die eigentliche Botschaft vollends verloren zu gehen. „Religion" wird großgeschrieben, „Religiosität" jedoch klein.
Der Buddha hat für seine eigene Lehre vorausgesagt, daß auch sie für eine nur begrenzte Dauer rein und unverfälscht überliefert werden würde. Die Frage mag einstweilen offenbleiben, wie weit der prognostizierte Verfallsprozeß nach über 2500 Jahren heute bereits fortgeschritten ist und wie erfolgreich eine Rückbesinnung sein kann. Wie immer man diese Frage beantworten will, die Meßlatte für eine solche Neuorientierung ist klar: Eine Religion der Zukunft muß den spirituellen Weg der Befreiung als praktische Aufgabe (wieder) in den Mittelpunkt rücken. Regeln für das Zusammenleben und für die gemeinschaftliche Ausübung sind unumgänglich, aber sie haben eine untergeordnete Bedeutung. Organisationen und Institutionen sind notwendig, doch kommt ihnen eine dienende Funktion zu. Anschauungen und Theorien sind Gehhilfen, aber nicht schon das Gehen selbst. Das gilt für alle Konfessionen, für die buddhistische ebenso wie für die christliche, für Juden, Muslime, Hindus und alle anderen. So gesehen hat Religiosität (im beschriebenen positiven Sinn) Zukunft, Religion (im beschriebenen negativen Sinn) jedoch keine.
Eine derartige Herangehensweise hat einen weiteren großen Vorteil. Sie rückt die Gemeinsamkeiten der religiösen Traditionen mehr in den Blick (vor allem ihren Beitrag zur Emanzipation des Menschen) als das Trennende. Sie bildet so eine solide und brauchbare Grundlage für einen nutzbringenden Dialog. Offene oder latente Spannungen und Feindschaften können leichter überwunden werden. Falsches Konkurrenzdenken verliert an Bedeutung, und die Chancen steigen, einander kennenzulernen, sich zu unterstützen und voneinander zu lernen.
Das Stichwort der Globalisierung unserer Welt ist schon recht populär geworden. Wie treffend dieser Begriff die aktuellen historischen Veränderungen insgesamt beschreibt, steht hier nicht zur Diskussion. Einem naheliegenden Mißverständnis dürfen wir indessen nicht unterliegen. Die „universelle Religion" von morgen ist keine Entsprechung zu den sich abzeichnenden allgemein-gesellschaftlichen Tendenzen der „Globalisierung". Sie ist nicht deckungsgleich mit den gegenwärtigen ökonomischen und zivilisatorischen Trends. Im Gegenteil. Universell meint eben nicht weltweite Gleichartigkeit, Anpassung an wenige vorgegebene Standards, Uniformierung oder Nivellierung. Wir brauchen keine weltumspannende Einheitsreligion und schon gar keine Einheitsorganisation. Die Religion der Zukunft darf keine Mixtur sein, die alle Profile bis zur Unkenntlichkeit verwischt und damit nur noch mehr der allgemeinen Oberflächlichkeit Vorschub leistet. Religion ist auch keine Ware, Marktchancen spiritueller Anbieter auf dem Weltmarkt sind nicht das Thema, und es werden auch keine Sieger im globalen religiösen Konkurrenzkampf gesucht.
Universell heißt in unserem Zusammenhang, eine umfassende, ganzheitliche Sicht der Realität zu finden und das Leben nach ihr auszurichten. Genau dem entspricht der eigentliche Anspruch jeder Religion und der buddhistischen Lehre ganz besonders. Wenn es gelingt, unsere Existenz und seine Gesetzmäßigkeiten vollständig zu begreifen und alle sich daraus ergebenden praktischen Schritte zur Befreiung zu gehen, ist das unendlich mehr als die Globalisierung des Denkens und Handelns in ihrer herkömmlichen Bedeutung.
Globalisierung meint in der historisch konkreten Situation, daß sich eine bestimmte Lebensauffassung überall durchsetzt, rund um den Erdball, rücksichtslos und ohne Kenntnis der langfristigen Folgen. Globalisierung meint die Verbreitung und Verfestigung eines Lebensstils, der vornehmlich auf Habenwollen und Erlebenwollen basiert. Eine universelle Religion dagegen will diese „weltliche" Globalisierung verstehen und über sie hinausgehen. Sie will, was Religion immer will: „Gier, Haß und Blendung" minimieren oder ganz überwinden. All das ist aus buddhistischer Sicht keine neue Aufgabe, weil sie die menschliche Lebenssproblematik generell entspricht. Sie ist aber immer wieder (neu) zu lösen, und sie hat in dem vor uns liegenden Jahrhundert eine ganz besondere Dimension.