Unser diesmaliger Aufenthalt in Sri Lanka sollte nicht ohne einen Besuch des Ehrwürdigen Nyanaponika Mahathera zu Ende gehen. Ich hatte mir vorgenommen, ihn um ein Interview über Buddhismus in Sri Lanka zu bitten und einige speziellere Fragen zum Verständnis des Dhamma an ihn zu richten. Schon von Deutschland aus war unser Kommen vereinbart.
Anfang August 1994 stehen in Sri Lanka nationale Parlamentswahlen unmittelbar bevor - die ersten seit 17 Jahren, mit großer Spannung erwartet und von anhaltenden politischen Unruhen begleitet. Das ganze Land scheint nur ein Thema zu kennen, und auch führende Teile des buddhistischen Sangha beteiligen sich an der Diskussion um die politische Zukunft der Insel. Wollen sich einerseits die großen politischen Parteien der Unterstützung durch die Bhikkhus versichern, so ist andererseits mancher Träger der Robe an direkter politischer Einflußnahme interessiert - zugunsten des Sangha oder seiner selbst. Gelegentlich kommt es in diesen Tagen sogar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, vor allem in den Städten. Deshalb sind für die Tage nach dem Urnengang Ausgangssperren im ganzen Land angekündigt, und wir entschließen uns, die Forest Hermitage möglichst bald aufzusuchen. Am 14. August wollen wir gegen 14.30 Uhr dort sein.
Also machen wir uns an diesem Sonntag nach dem Mittagessen auf den Weg. Meine Frau und ich gehen die quirlige und verkehrsreiche Senanayake Road hinunter bis zum kleinen Zweigpostamt, wo wir nach rechts abbiegen. Vorbei am President House, dem Trinity-College und dem Sri Dalada Thapowanaya Meditation Centre kommen wir den Hügel hinaufsteigend in den angrenzenden Wald. Bald erreichen wir ein Tor, das einen geschützten Teil von dem übrigen Forst trennt. Wir sagen der Aufsicht, wohin wir wollen und daß wir angemeldet sind. Er erklärt uns darauf hin noch einmal den Weg: viermal die linke Abzweigung und dann rechts - schon seien wir vor der Forest Hermitage.
Unsere kleine Wanderung setzt sich noch einmal über eine knappe halbe Stunde fort, durch unberührten üppigen Dschungel. Eine bunte Vielfalt von Bäumen, Sträuchern, Kletter- und Schlingpflanzen ringt in einem lautlosen Kampf um Raum und Licht. Das wuchernde Grün wölbt sich über modernde Äste und fauliges Laub. Einige wunderschöne Schmetterlinge, deren farbenfrohen Pracht besonders zart und zerbrechlich ist, kreuzen gelegentlich unseren Weg; und an einer Stelle geraten wir in eine Affenherde, die in den Bäumen um uns und über uns ihr lautes und hektisches Spiel in dem sonst so stillen Wald treibt - unentwegt auf der Suche nach Eßbarem oder einem Leckerbissen.
Unserem Gefühl nach müßten wir jetzt gleich am Ziel sein, und wir biegen einen kleinen Seitenweg ein. Tatsächlich sehen wir nach einigen Metern ein Haus. Es sieht allerdings anders aus, als wir die Hermitage von Bildern her kennen. Wir sehen zwei einheimische Mönche, von denen uns einer heranwinkt. Wohin wir wollen, fragt er, lässig in einem Sessel auf der Veranda sitzend, die Füße vor sich auf einem Hocker. Die Zeitung mit den neuesten Nachrichten nimmt er nicht aus der Hand. Wie sich herausstellt, sind wir nicht ganz falsch. Wir hätten nur etwas später abbiegen müssen, um die Forest Hermitage von vorne zu erreichen. Aber so geht es auch. Hundert Meter weiter auf einem kleinen Pfad, und wir sind schließlich da.
Wir gehen um das kleine Haus, um vielleicht jemanden zu entdecken, der uns öffnet. In diesem Moment geht die Türe auf, und heraus tritt Bhikkhu Bodhi, der uns erwartet hat und hereinbittet. Die Schuhe sollen wir mitnehmen, denn es gibt auch hier viele Affen, die sonst womöglich Schabernack mit ihnen treiben. Wir folgen dem Bhikkhu durch den Vorraum, der zugleich Büro- und Arbeitsraum ist. Unmittelbar darauf betreten wir das Zimmer des Ehrwürdigen Nyanaponika. Es ist sehr schlicht eingerichtet: sein Bett, zwei Stühle. Auf dem kleinen Schreibtisch einige Kassetten und Arbeitsutensilien, das 'Glasperlenspiel' von Hermann Hesse, außerdem der Fragenkatalog, den ich zuvor übersandt habe. Links neben dem Schreibtisch sitzt der Ehrwürdige auf seinem Stuhl. Die Hände auf dem Schoß kommt der schmächtige Körper des nunmehr 93-Jährigen in Bewegung, als wir eintreten.
Bhikkhu Bodhi ist vorausgegangen und kündigt uns an. Er spricht laut und geht nahe heran. Er greift in Richtung Schreibtisch, auf dem ein kleiner Verstärker liegt. Nyanaponika setzt den Kopfhörer auf, und ich nehme das Mikrophon in die Hand. Nur auf diese Weise sind noch Gespräche möglich. Augenlicht und Gehör haben in den letzten Jahren sehr nachgelassen. Da Nyanaponika schon lange nicht mehr selbst lesen und schreiben kann, bildet dieses Gerät das wichtigste Bindeglied zur Außenwelt. Ingeborg und Götz Nitzsche, die in Kandy leben und den Ehrwürdigen seit einiger Zeit intensiv und aufmerksam betreuen, lesen ihm regelmäßig Briefe und Bücher vor. Neben der eigenen Disziplin zwingt all das, sich nur mit Wesentlichem zu beschäftigen und die Notwendigkeit von Worten noch mehr zu wägen.
Nach der Begrüßung danken wir für die Bereitschaft, uns zu empfangen und über den Dhamma zu sprechen. Schon zuvor hat uns unser Gastgeber mitteilen lassen, daß er sich nicht mehr imstande sehe, etwas zu einer Veröffentlichung beizutragen. Er bleibt sich so seiner Devise treu, mit jedem Satz exakt und uneingeschränkt zuverlässig zu sein. Deshalb seine Bitte um ein nur persönliches Gespräch.
Überrascht bin ich von der Tatsache, daß der Ehrwürdige nichts Verallgemeinerndes über den Buddhismus in dem Land sagen will, in dem er doch über Jahrzehnte gelebt hat. Er sei nicht viel herumgekommen, meint er, und kenne sich deshalb nicht so gut aus. Er empfiehlt, einen der Mönche in der benachbarten Anlage zu befragen. Aber Fragen zum Dhamma werde er gerne beantworten.
Mich interessieren vor allem Hinweise zum Verständnis der buddhistischen Meditation und der meditativen Praxis. Auf Nachfrage betont der Ehrwürdige das Wechselverhältnis von Ruhe- und Einsichtsmeditation (samatha und vipassana). Ruhe des Geistes und Einsicht förderten sich wechselseitig, doch seien die Lebensverhältnisse im Westen nicht gerade dazu angetan, tatsächlich innere Stille zu erlangen und Beschaulichkeit zu üben. Das mache die Erreichung der meditativen Versenkungszustände (jhana) nicht leicht, obwohl sie für den Übungsweg von großem Vorteil seien. Oft legten deshalb Lehrende und Praktizierende den Schwerpunkt auf die reine Einsichtsmeditation. Wenn gelegentlich vor den Vertiefungen gewarnt werde, dann nur für den Fall, daß sie ausschließlich und ohne die nötige Achtsamkeit geübt würden. Entscheidend für die Meditation sei nicht das mit ihr möglicherweise verbundene Glücksgefühl, sondern der klare Anblick der Daseinswirklichkeit. Die durchdringende Erfahrung der Vergänglichkeit, der Leidhaftigkeit und Unpersönlichkeit aller Erscheinungen sei das eigentliche Kernstück des Dhamma; Dreh- und Angelpunkt der Buddhalehre sei zweifellos die anatta-Lehre, gibt er uns nachdrücklich mit auf den Weg.
Aufschlußreich ist ebenfalls sein Hinweis, daß auch der Theravada die Technik der Visualisation in der Meditation kennt, wenn diese auch nicht eine so ausgeprägte Rolle spiele wie etwa in der tibetischen Tradition. Der Ehrwürdige nennt die Visualisierung der 32 Bestandteile des menschlichen Körpers als Beispiel dafür sowie die Übung, sich den eigenen Körper in den verschiedenen Stadien des Verfallsprozesses nach dem Tod vorzustellen. So könne man sich der wahren Beschaffenheit des Körperlichen vergewissern. Von einem Mönchskollegen berichtet er darüber hinaus, wie dieser bei der 'Betrachtung über den Erleuchteten' (buddhanussati) ein Bild des Buddha visualisiert und imaginativ über dessen hohen Qualitäten meditiert.
Wir bemerken sofort, wie anstrengend jeder Satz ist, den der Ehrwürdige ausspricht. Wir fühlen uns unwohl bei dem Gedanken, ihn über Gebühr mit eigenen Anliegen zu bedrängen. Doch beruhigt man uns später: 'Dieser Herausforderung bedarf er, und er nimmt sie gerne auf sich'. Nicht die intellektuelle Seite der Unterhaltung ist es, die Schwierigkeiten bereitet. Man spürt genau, daß bei jedem Stichwort die Antwort unmittelbar da ist, ohne lange Überlegung und Nachdenken. Aber die Umsetzung in Sprache und artikulierte Laute machen größte Mühe. Leise und stockend kommen die Worte, der ganze Körper zittert unter der Anstrengung. Von Zeit zu Zeit braucht es einige Momente der Erholung, bis die Unterredung fortgesetzt werden kann. Oft ist der Kopf nach hinten gesunken, die Augenlider sind geschlossen. Das Körperinstrument ist verbraucht und abgelebt, es gehorcht kaum noch. Dazu kommt, daß der Ehrwürdige Nyanaponika am Tag zuvor in seinem Zimmer gestürzt ist und noch zusätzlich geschwächt ist.
Nach etwa einer halben Stunde signalisiert der Ehrwürdige Nyanaponika, daß er ermüdet ist, und wir beenden das Gespräch. Nach dem Abschied und allen guten Wünschen verlassen wir das Zimmer. Draußen begegnet uns noch einmal Bhikkhu Bodhi, wir sagen auch ihm 'auf Wiedersehen' und treten vor die Tor. Zum Schluß noch ein Foto von der Hermitage und der Rückweg beginnt.
Etwa zwei Monate später, am 19.10.1994, erreicht die Freunde Nyanaponikas in Deutschland ein Telegramm. Es beginnt mit den Worten: „Heute morgen um 4.30 Uhr hat der Ehrwürdige Nyanaponika seinen Lebensweg beendet; er schlief ruhig ein ..."