Vorwort
Die Lieder der Mönche und die Lieder den Nonnen (Theragâthâ und Therîgâthâ) zählen mit Recht zur Weltliteratur. In diesen zweieinhalbtausend Jahre alten Versen aus dem buddhistischen Pâli-Kanon melden sich Männer und Frauen zu Wort, um über ihre tiefen spirituellen Erfahrungen auf ihrem Weg der Befreiung zu berichten. Sie sprechen von ihrer Sehnsucht nach innerem Frieden. Sie sprechen über ihre Kämpfe und Zweifel, aber mehr noch von Einsicht und Glück, von Stille und Freiheit. Ekkehard Saß hat sämtliche Verse aus beiden Sammlungen – es sind insgesamt 1.700 – neu übersetzt und eine repräsentative Auswahl von ihnen zusammengestellt. Sie werden hier vorgestellt.
Aus mehreren Gründen ist die Beschäftigung mit den „Liedern“ eine Herausforderung. Über die schwierige Aufgabe einer angemessenen Übertragung ins Deutsche wird der Autor selbst berichten. Ich möchte vielmehr einige Gedanken der Frage widmen, was es für die Leserinnen und Leser bedeuten kann, sich auf das vorliegende Buch einzulassen.
Zunächst heißt das natürlich, sich in eine längst vergangene kultur- und geistesgeschichtliche Periode zurückzuversetzen und das geistige Ringen von Menschen im fernen und vergangenen Indien nachzuempfinden und zu verstehen. Dabei ist sicher hilfreich, dass die eigentlichen menschlichen Themen und Anliegen aller Zeiten und Kulturen ähnlich sind. Die Suche nach dem Sinn des Lebens und nach Glück und Vollkommenheit bewegen die Menschen seit jeher. Schwieriger schon wird es sein, die ganze Tiefe der Gefühle und Gedanken jener Nonnen und Mönche nachzuvollziehen, die sie oft nur andeuten können, nicht zuletzt weil Worte jene außergewöhnlichen geistigen Erfahrungen nur unzureichend ausdrücken können. Hinzu kommt die Dichte des Ausdrucks jeder gebundenen Sprache und gerade der vorliegenden Verse, bei deren Übersetzung sich Ekkehard Saß in Satzbau, Wortwahl und „Klang“ möglichst nahe an das Original anlehnen möchte.
Aber wenn ich von einer Herausforderung an die (buddhistischen vor allem) Leserinnen und Leser spreche, meine ich noch etwas anderes. Jede Übertragung und jeder Versuch der Interpretation von Texten erfolgt mit einem bestimmten Vorverständnis. Ekkehard Saß macht die Grundzüge seiner Sichtweise in der Einleitung erkennbar.
Zum einen ist er nicht gewillt, alle in den „Liedern“ formulierten Aussagen hinsichtlich ihres Wahrheits- und Sinngehaltes zu akzeptieren. Beispielsweise würdigt er jene Passagen kritisch, die für ihn eine inakzeptable Leib- und Lustfeindlichkeit des Theravâda ausdrücken, und andere, die dessen Frauenfeindlichkeit widerspiegeln. Er läßt dabei offen, ob in den Versen mit einem entsprechenden Tenor (noch) der Geist des Buddha und der seiner ersten Schüler zu uns spricht oder mehr der späterer Redaktoren und Bearbeiter. Das wird an anderer Stelle zu untersuchen sein. Es ist zu erweisen, ob und inwieweit nach dem Tod des Buddha beziehungsweise nach dem Ende seiner eigenen Lehrtätigkeit aus einer berechtigten Zurückweisung naiver Glückserwartung durch sinnliche Erlebnisse eine überzogene und rigide Ablehnung aller weltlicher Genüsse und Freuden wurde. Es wäre ebenfalls zu klären, warum und wie zum Schutz von Frauen gedachte Regeln in der späteren Tradition vielfach zu Instrumenten ihrer Bevormundung und Unterdrückung werden konnten.
Darüber hinaus stellt der Autor vieles von dem in Frage, was aus guten Gründen zum Kernbestand der Wirklichkeitssicht der meisten Buddhistinnen und Buddhisten zählt. Aus der Perspektive des humanistisch geprägten und einem naturwissenschaftlichen Weltbild verpflichteten Autoren bedürfen alle Aussagen über Jenseits und Transzendenz einer “zeitgemäßen Interpretation“. „Himmlisches“ oder „höllisches“ Sein gelten ihm daher eher als metaphorische Ausdrücke denn als reale (nachtodliche) Erlebnismöglichkeiten. Aussagen über Fortexistenz und Wiedergeburt haben nach Saß mehr symbolischen Charakter und repräsentieren Facetten eines eher überholten menschlichen Denkens und nicht tatsächliche existenzielle Gegebenheiten.
Im deutschen Buddhismus sind diese Auffassungsunterschiede nicht neu, schon am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden sie intensiv diskutiert. Und gerade in einer Zeit wie der heutigen, in der Spiritualität alles in allem ein eher geringer Stellenwert beigemessen wird und ein naturwissenschaftlich-technisches Weltbild dominiert, gilt es authentische buddhistische Positionen (immer wieder) neu zu bestimmen und eine realistische Betrachtung der Daseinswirklichkeit zu vermitteln. Wir haben zu prüfen, ob die „Materie“ tatsächlich als Grundlage des Lebens und des Geistes zu betrachten ist oder ob die Dimension des Dinglich-Materiellen (nur) eine Spielart unserer Erlebnismöglichkeiten darstellt - mit allen praktischen Folgen. Sind wir Teil einer „objektiven Welt“, oder sind „Ich“ und „Welt“ Spiegelung geistig-seelischer Kräfte? Unterliegen wir den Gesetzen der Natur oder denen des Geistes? Sollen wir uns in diesem Leben (möglichst gut) zurechtfinden und behaupten, oder geht es darum, alle Scheinrealität zu durchschauen und zu überwinden?
Auf stillem Pfad ist ein wichtiger Anstoß in dieser Auseinandersetzung, und deshalb hat sich die DBU zur Herausgabe dieses Auswahlbandes entschlossen. Sie sind herzlich eingeladen, den skizzierten Fragestellungen selbst nachzugehen. Wie immer sie von Ihnen persönlich beantwortet werden mögen, entscheidend aber ist: Die Theragâthâ und Therîgâthâ sind und bleiben ein großartiges Zeugnis des menschlichen Bemühens, ein ganz dem Spirituellen gewidmetes Leben zu führen. Sie zeigen einen hohen ethischen Anspruch und den dringenden Wunsch, dem eigenen Geist ungekannte erhebende und befreiende Horizonte zu öffnen. Sie lassen Skepsis und Hoffnung, Rückschläge und Fortschritte und am Ende den Durchbruch zur Freiheit erkennen. Aus all diesen Gründen können die Lieder der Mönche und Nonnen den Menschen auch heute noch berühren.
Alfred Weil
(Frühjahr 2001)