Den richtigen Weg nicht aus den Augen verlieren!
Die Vielfalt von buddhistischen Schulungswegen, Praxisformen und Gemeinschaften ist groß, und es ist schwer, sich darin zurechtzufinden. Gerade für den Anfänger. Was also verbindet die einzelnen Traditionen, was unterscheidet sie? Und worauf kommt es wirklich an - auf dem Weg der Befreiung?
Alfred Weil im Gespräch mit Holger Stienen
H.St.: Im traditionellen europäischen Theravadabuddhismus wird der Pali-Kanon umfassend studiert. Das geschieht in anderen Traditionen teilweise auch, aber nicht so sehr am Anfang. Dort stehen z.B. die Praxis der Versenkung, Mantrenübungen oder Zugänge zum Buddhismus über spätere Sutras oder das Zuhören bei guten Lehrern am Anfang. Sind die Zugänge zum tiefen Verstehen des Buddhismus nicht vielfältig?
A.W.: Nach den Empfehlungen des Erwachten steht die richtige Orientierung am Anfang einer Unternehmung. Neben dem Vertrauen, dass sie gelingen kann. Man muss seinen Ausgangspunkt kennen, ein lohnendes Ziel und die Art und Weise, wie man es erreichen kann. Das gilt besonders in religiösen Dingen. Aber dann muss man sich natürlich aufmachen und vorwärts gehen, was mancherlei weitere Anforderungen und Übungen mit sich bringt.
In den Anfängen kamen die inspirierenden Belehrungen direkt aus dem Mund des Buddha oder seiner großen Schüler. Heute steht neben dem Hören vor allem das Lesen im Vordergrund. Allerdings: Ein richtiges „Studium" des Pali-Kanon nehmen auch die am ursprünglichen Buddhismus Interessierten immer weniger auf sich. Sie beschäftigen sich weit eher mit Sekundärliteratur oder mit verschiedenen Formen der Meditation und der Achtsamkeit im Alltag. Dass es viele Zugänge zum Dhamma gibt, begrüße ich. Aber wir sollten auch erkennen, was Neben- und Abwege sind.
H.St.: Bei Gesprächen mit europäischen Theravadabuddhisten wird von diesen oftmals der „Achtfache Edle Pfad" betont, hier aber für den Anfang die Übungen z.B. des Gebens oder der Rechten Rede hervorgehoben. Immer wieder beobachte ich eine gewissen Scheu vor umfassenderen Meditationsübungen, die der „Pfad" ebenfalls beinhaltet. Meine eigene Erfahrung auf dem Übungsweg war jedoch schon relativ früh, dass höhere Weisheit nur infolge tiefer Versenkung entsteht ...
A.W.: Auch dem Buddha waren die tiefsten existenziellen Einsichten nur mit einem außerordentlich klaren und wachen Geist möglich. In tiefer Sammlung erreichte er die unmittelbare Schau zunächst seiner eigenen vergangenen Leben, dann des Sterbens und Wiedererscheinens der Wesen nach deren Karma und schließlich das Verständnis der Vier Heilenden Wahrheiten. Allerdings: Diese „spirituelle Höchstleistung" war nur auf einem stabilen und tief gegründeten Fundament möglich. Ohne ein makelloses ethisches Verhalten keine Sammlung und kein Erwachen, könnte man vielleicht etwas zugespitzt formulieren. Was für den Erwachten galt, trifft nicht weniger für den buddhistischen Normalverbraucher zu. Wer sein Alltagsleben nicht in den Griff bekommt, kein harmonisches Zusammenleben mit anderen zustande bekommt und seinen Geist tagsüber nicht an die Leine nehmen kann, wird abends auf der Matte keine „Erleuchtung" haben.
Es kommt nicht von ungefähr, dass der Buddha seinem „Training" einen bestimmten Aufbau und den Übungen eine bestimmte Reihenfolge gegeben hat. So spricht er von dana, sila, bhavana (Geben, ethisches Verhalten, Geistesschulung) oder von sila, samadhi, panna (ethisches Verhalten, Sammlung, Weisheit). Meditation steht also nicht am Anfang, sondern die dazu notwendigen Voraussetzungen, um Meditation wirklich fruchtbar werden zu lassen. Viele westliche Buddhisten wollen lieber „gleich zum Kern der Sache kommen" und ignorieren oft ihren tatsächlichen Entwicklungsstand. Ihre Zeit auf dem Kissen ist dann nicht selten eine „Pseudo-Meditation".
Das soll aber umgekehrt nicht heißen, dass wir erst dann meditieren sollen, wenn wir ansonsten schon perfekt sind. Auch will ich nicht sagen, dass bei Einzelnen Meditation nicht schon früh zu beachtlichen Ergebnissen führt.
H.St.: Insbesondere die tibetischen Strömungen haben in Europa großen Zulauf von suchenden Menschen. Manchmal scheint mir, Theravada und Zen werden als „kalt" empfunden. Ist der Theravada-Buddhismus zu „rational" (Weg der Geistesschulung) und Zen zu streng in seiner Übungsform, die Klosterregeln zum Vorbild hat?
A.W.: Die Lehren und Anleitungen des Buddha, wie wir sie aus dem Palikanon kennen, sind eine ganz und gar „runde Sache". Theorie und Praxis stehen in einem angemessenen Verhältnis zueinander. Der Intellekt des Menschen ist ebenso angesprochen wie seine Gefühle, sein Wollen ebenso wie sein Handeln und seine zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese notwendige Ganzheitlichkeit der ursprünglichen buddhistischen Spiritualität ist im Laufe der Zeit aus dem Blick geraten, die Ausgewogenheit des Übungsweges zum Teil verloren gegangen. Die staubige Scholastik im Theravada begnügte sich irgendwann mit blutleerem und lebensfernem Buchstabenwissen, und das Mahayana war in einem gewissen Sinn die reformerische Antwort mit einem (wieder) Mehr an menschlicher Wärme und Mitgefühl. Die zu beobachtenden Einseitigkeiten im Zen rühren aus einem überbetonten und nicht selten anti-intellektuell missverstandenen „Nur-Sitzen". Seine rigiden Regeln schließen Menschen leicht aus, die erst am Anfang stehen, die Buddhist sein und doch ein „normales" bürgerliches Leben führen wollen.
H.St.: Können die verschiedenen Schulen des Buddhismus voneinander lernen? Wird der Buddhismus im Westen in 100 bis 200 Jahren eine Synthese der Traditionen bringen?
A.W.: Ja, die unterschiedlichen Traditionslinien, die in Deutschland in vielfältiger Weise nebeneinander existieren, können von einander profitieren. Sie können sich wechselseitig zum Spiegel werden und aufzeigen, wo die eigenen Defizite liegen und wo umgekehrt die Schätze buddhistischer Weisheit noch lebendig sind. Das setzt aber eine große Offenheit voraus und die Bereitschaft, vom buddhistischen Alleinvertretungsanspruch Abschied zu nehmen, der vielerorts vorhanden ist. Nur so scheint es mir auch möglich, dass der Buddhismus ein „westliches Gesicht" bekommt. Am grünen Tisch kann das nicht erreicht werden, wohl aber im innerbuddhistischen Dialog und in der Zusammenarbeit an konkreten Projekten über die Schulgrenzen hinweg. Dabei wird auch hier das Ganze des neu Entstehenden etwas anderes und mehr sein als die bloße Summierung der Einzelaspekte des gegenwärtigen buddhistischen Lebens in Deutschland. Und vergessen wir nicht, dass der Buddhismus in einem über Jahrhunderte hinweg von Christentum und Aufklärung geprägten Europa anders aussehen wird als in Asien.
H.St.: Im Mahayana sprechen wir davon, dass alle Wesen Buddhanatur sind, d.h. das Potenzial zur höchsten Weisheit, dem Erwachen, in sich tragen. Sie können Buddhas werden - bereits in diesem Leben. Entlang dieses „Leitfadens" wird, z.B. bei uns im Zen, möglichst ständig in höchster Achtsamkeit, ernsthaft geübt. Ich bin aber vielen Buddhisten begegnet, die an diese Möglichkeit nicht „glauben" und daher auch anders üben....
A.W.: Leider muss ich von mir selbst bekennen, dass die buddhistischen Brötchen, die ich backe, mit der Zeit immer kleiner wurden. Mit dem, was ich in diesem Leben noch „erreichen" will, bin ich in den letzten Jahren viel bescheidener geworden. Bescheidener, weil ich gelernt habe, mich selbst und meine Fähigkeiten realistischer einzuschätzen. Mir geht es aber nicht alleine so.
Die Gründe? Unser Intellekt ist relativ leicht in der Lage, selbst ferne Ziele ins Auge zu fassen: Nirvana! Buddhaschaft! Befreiung! Aber der Wunsch, das zu erreichen, und seine Erfüllung sind zweierlei. „Geist" und „Herz" des Menschen folgen unterschiedlichen Regeln. Wir mögen mit einemmal einsehen, das „Gier, Hass und Verblendung" die Wurzel allen Übels sind, und wie segenreich es wäre, ihrer ledig zu sein. Und dennoch sind diese Kräfte in uns in aller Regel so stark, dass wir sie nicht allzu bald los werden können. Auch wenn wir hundert Jahre alt werden. Es geht hier um einen spirituellen Wachstumsprozess, der seinen eigenen Gesetze folgt und sich nicht nach unseren Wunschträumen richtet. Das braucht uns gar nicht zu entmutigen, kann aber vor Enttäuschungen bewahren.
Schon zu Zeiten des Buddha Sakyamuni war das „Erwachen noch in diesem Leben" nur vergleichsweise wenigen Menschen möglich. Und das mit dem bestmöglichen Lehrer überhaupt und in einem „spirituell aufgeladenen" Umfeld, das mit den heutigen materialistisch-konsumorientierten Lebensumständen gar nicht vergleichbar ist. Aber letztlich ist entscheidend, dass wir das Potenzial zum Erwachen haben und in diesem Leben die Weichen so stellen, dass uns der weitere Weg notwendigerweise ans Ziel bringen muss. Wie lange das dann noch dauert, ist gemessen an der schon zurück gelegten Strecke unseres Daseinsirrweges (fast) bedeutungslos.
H.St.: Deine beiden neueren Bücher („Morgenröte und heller Tag" bzw. „Buddhismus. Schritte in den Westen - Schritte im Westen" - beide Beyerlein & Steinschulte - haben mir sehr viel gegeben und neue Denk- und Übungswege aufgezeigt. Du greifst dort auch ein Thema auf, das weder bei uns im Zen noch im Theravada sonst besonders betrachtet wird: „Himmel und Hölle - Karma und die fünf Grundformen des Erlebens" ...
A.W.: Ich greife das Thema auf, weil es in den Belehrungen des Buddha eine wichtige Rolle spielt. Es geht darum zu zeigen, dass menschliches Dasein nur eine Existenzform unter vielen möglichen ist und dass unter- wie übermenschliches Erleben ganz reale Größen sind. „Himmel" als Erfahrung höchsten Glücks und „Hölle" als Erfahrung unsäglichen Schmerzes sind keine Phantasterei. Sie werden manifeste Wirklichkeit, wenn sich Wesen entsprechend verhalten (Karma). Dem „aufgeklärten" westlichen Menschen ist das allenfalls verzichtbares mythologisches Beiwerk oder ein billiger pädagogischer Trick, um Ethik und Moral in einer Gesellschaft mit religiös motivierten Drohungen auf die Sprünge zu helfen. Das Zen interessiert sich hauptsächlich für die Erfahrungen „hier und jetzt" und fragt nicht nach „jenseitigen Dingen".
So fremd also schon der Karmagedanke in unserer Kultur sein mag, er trifft noch keineswegs den Kern der buddhistischen Lehren. Der Erwachte sprach vom Karmagesetz, um zum „Eigentlichen" hinzuführen, um seine Zuhörer auf die Darlegung der „letzten" Wahrheiten vorzubereiten. Sie handeln von der Ich- und Substanzlosigkeit aller Phänomene (anatta). Man kann daran ermessen, wie weit wir heute generell von einem tiefen Verständnis des Dharma entfernt sind.
H.St.: Hieran schließt sich auch die Thematik Tod, Sterben und Fortexistenz an, die du umfassend erläuterst und die im Buddhismus ja ganz anders als in anderen Religionen verstanden wird. Diese Fragen scheinen die Menschen hier im Westen heute wieder mehr zu bewegen ...?
A.W.: Diese Beobachtungen mache ich auch. Wenn ich Vorträge halte oder Seminare zu diesem Themenbereich anbiete, ist das Interesse des (nicht immer buddhistischen) Publikums besonders groß. Das Thema ist kein nur akademisches oder rein philosophisches, sondern es berührt und bewegt die Menschen unmittelbar. Hier können die buddhistischen Einsichten eine Lücke schließen, die die christliche Tradition hinterlässt. Dort finden sich keine umfassenden und plausiblen Erklärungen über den Tod und das „Danach". Und die Behauptung der Naturwissenschaft vom endgültigen „Aus" mit der körperlichen Vernichtung führt völlig in die Irre. Auch in die Wahrheit von der Fortexistenz und der anfanglosen Daseinswanderung der Wesen muss sich der westliche Mensch erst langsam einfinden. Erst auf dieser Basis wird verständlich, was Befreiung (Nirvana) wirklich bedeutet. Der Buddha konnte da auf einem ganz anderen Vorverständnis aufbauen.
H.St.: Stehen wir im Westen, wo der Buddhismus eine gewisse Popularität gewinnt, nicht vor der Notwendigkeit einer „Konsolidierung", also einer Vertiefung des Lehrens, der stärkeren Ausbildung guter Lehrer, der Bildung von Sanghas in der Art klösterlicher Gruppen als stabile Vorbildgemeinschaften in Einheit mit verstärkten Anstrengungen bezüglich der Ordinierungsvoraussetzungen?
A.W.: Ich stimme in all diesen Punkten zu. Der Buddhismus ist in Deutschland seit gut 100 Jahren zuhause. In dieser Zeit ist die Zahl seiner Anhänger und Sympathisanten sprunghaft gewachsen. Man schätzt heute, dass über 100.000 Deutsche dem Buddhadharma nahe stehen. Neben dieser „Breitenwirkung" ist aber eine Vertiefung nicht im gleichen Umfang zu beobachten. Ich habe eher den Eindruck, dass die meisten buddhistischen Aktivitäten ganz an der Oberfläche bleiben und kaum gesehen wird, wie weit die Weisheit des Erwachten reicht. Geschweige denn, dass aus seinen Einsichten die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Ich plädiere deshalb sehr dafür, Studium und Praxis zu vertiefen.
Eine große Hilfe dabei sind natürlich Gemeinschaften Gleichgesinnter. Dort können wir uns gegenseitig ermutigen und behilflich sein und unsere Kräfte bündeln. Allerdings gibt es zu wenig buddhistische Lebensgemeinschaften und gemeinsame Praxisfelder, besonders wenn es um einen buddhistisch fundierten Lebenserwerb geht. Wir brauchen mehr Vorbilder und erfahrene Lehrer, die im Westen groß geworden sind und „unsere Sprache" sprechen. Das größte Defizit jedoch: In Deutschland gibt es kaum Ordinierte - weder Mönche noch Nonnen - geschweige größere Ordensgemeinschaften, in denen der Dharma intensiv praktiziert wird und wo seine Schätze bewahrt und lebendig bleiben.
H.St.: Lieber Alfred, ich danke dir für dieses Gespräch
Fragen von Dr. Holger StienenErschienen in Buddhistische Monatsblätter Nr 3/2008 |