Daß es eine zunehmende Zahl von westlichen Praktizierenden des Buddhismus gibt, ist eine bemerkenswerte Tatsache. Natürlich stellt sich die Frage, ob es sich dabei eher um eine vorübergehende Mode handelt oder ob die Lehre des Buddha tatsächlich als eine ernsthafte Alternative gelebter Spiritualität betrachtet werden kann. Für mich gilt die These: Es gibt eine sich verstärkende und sich stabilisierende Hinwendung der Menschen in der westlichen Welt zur östlichen Spiritualität und zum Buddhadharma im besonderen. Buddhistsein in Europa gewinnt mehr und mehr „Normalität", ähnlich wie bei dem westlichen Vorreiter dieser Bewegung, den Vereinigten Staaten von Amerika. Gleichermaßen naheliegend wie berechtigt ist Frage nach den Bedingungen für die Ausbreitung dieser (bei uns relativ neuen) religiösen Praxis und nach den Motiven, sich für sie zu entscheiden.
Ich möchte den Versuch einer summarischen und systematischen, wenngleich sicher nicht vollständigen Aufzählung machen. Mein eigener Zugang und meine eigene Einstellung dem Buddhismus gegenüber sollen dabei als Ausgangspunkt und Beispiel dienen. Ich benutze sie als Erklärungsmodel, bin mir aber der unterschiedlichen individuellen Situation bei anderen Menschen durchaus bewußt. Ergänzend dazu möchte ich die besonderen Perspektiven meiner Betrachtung deutlich machen:
Ich werde mich nun dem Thema widmen, wieso sich jemand in einer westlichen Gesellschaft entschließt, Buddhist zu werden. Ich halte es dabei für notwendig, zunächst mit der Beschreibung ganz allgemeiner Bedingungen zu beginnen.
1) Wiederkehrende Grunderfahrungen des Menschen
Warum wendet man sich überhaupt einer Religion zu? Warum ist man ein religiöser Mensch oder wird es? Aus meiner Sicht sind die Gründe stets gleichbleibende existentielle Fragen und die Suche nach befriedigenden und befreienden Antworten. Anders ausgedrückt: Religiosität hat mit einer wiederkehrenden Grunderfahrungen des Menschen zu tun - mit seinem (subjektiven) Empfinden und Erleben von Unzulänglichkeit und Mangelhaftigkeit. Diese mögen in ganz unterschiedlichen Formen zutage treten.
2) Enttäuschung hinsichtlich der weltlichen Strategien und Lösungsmöglichkeiten
Freilich ist das allein meist noch kein hinreichender Grund, sich einer Religion zuzuwenden. Hinzu kommt außerdem die Enttäuschung hinsichtlich der bisher bekannten und angewandten weltlichen Strategien und Lösungsmöglichkeiten. Zu oft und zu lange hat man vielleicht vergeblich versucht, über die Veränderung der äußeren Lebensbedingungen, über die Gestaltung der persönlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder über die Beherrschung der Natur seinem Ziel näherzukommen:
Bei der Suche nach Alternativen und wirklichen Hilfen wenden sich die Menschen deshalb (wieder) religiösen Themen zu. Spirituelles Interesse gewinnt (wieder) an Bedeutung, und entsprechend sind die Hoffnungen, die gegenüber den Religionen formuliert werden. Von ihnen erwarten die Menschen gangbare Wege zur Minderung von Trauer und Schmerz, Einsamkeit und Verlorenheit, Irrtum und Nichtwissen - von Unerfülltsein im weitesten Sinn. Oder, um es positiv zu formulieren, Religiosität soll zur Erlangung von Sicherheit und Geborgenheit, Wissen und Orientierung und von innerem Frieden verhelfen.
3) Keine befriedigenden Antworten von seiten der überkommenen Religionen
Eine dritte Bedingung besteht nicht selten darin, daß Suchende keine befriedigenden Antworten auf ihre drängenden Fragen von seiten der überkommenen Religionen erhalten. Wenigstens empfinden sie selbst es so. Das macht sich an verschiedenen Punkten fest.
4) Präsenz der buddhistischen Lehre im Westen/in Europa
Der letzte Aspekt im Zusammenhang mit unserer Frage klingt vielleicht banal, ist es aber keineswegs: Natürlich ist Präsenz der buddhistischen Lehre im Westen (in Europa) von ganz wesentlicher Bedeutung, wenn man sich ernsthaft mit ihr auseinandersetzen will. Das Christentum ist nicht länger die alleinige Religion vor Ort, wir leben zunehmend in multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften. Neben dem Islam sind inzwischen auch die fernöstlichen Religionen und hier besonders der Buddhismus vertreten. Und zwar in einem durchaus nennenswertem Umfang und mit seinen unterschiedlichen Schulen und Traditionen. Die buddhistische Literatur in deutscher oder einer anderen westlichen Sprache ist bereits unüberschaubar geworden. Das bezieht sich auf die Quellentexte wie auf die Sekundärliteratur gleichermaßen. Buddhistische Zentren und Seminarhäuser gibt es an vielen Orten, öffentliche Veranstaltungen in noch mehr größeren und kleineren Städten. Namhafte Lehrer und Lehrerinnen, früher asiatische und jetzt zunehmend auch westliche, vermitteln den Buddhadharma direkt und auf einer persönlichen Ebene. Die allgemeine Information über die Medien und die öffentlichen Bildungseinrichtungen hat stark zugenommen, und sehr hilfreich ist die alles in allem wohlwollende öffentliche Meinung dem Buddhismus gegenüber. Die charismatische Persönlichkeit des Dalai Lama hat hier einen ganz wichtigen Anteil, besonders seit der Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn.
Nach der Schilderung der allgemeinen Rahmenbedingungen wird es nun Zeit, näher auf die Aspekte einzugehen, die für die Zuwendung gerade zur Lehre des Buddha sprechen. Was also sind die besonderen Eigenschaften des Buddhismus, die ihn so attraktiv machen?
1) Vielfalt der Möglichkeiten des Zugangs und der Identifikation
Ein bedeutsames Merkmal sehe ich in der Vielfalt der Möglichkeiten des Zugangs und der Identifikation. Das entspricht der Vielfältigkeit der menschlichen Bedürfnisse und Temperamente.
Der Buddhismus im Westen ist mittlerweile ein lebendiger Repräsentant dieser verschiedenartigen Elemente, wenngleich seine Angebote natürlich nicht überall in gleichem Umfang und vollständig vorhanden sind.
2) gewinnende Grundhaltung des Buddhismus
Auf verschiedenen Ebenen ist dem Buddhismus eine gewinnende Grundhaltung eigen. Für viele ist schon die erste Begegnung mit den Lehrreden des Erwachten ausschlaggebend und hinterläßt einen nachhaltigen Eindruck. Sicher können die wenigsten sofort ihren Inhalt und ihre Aussagen von Grund auf verstehen, aber sie bekommen eine unmittelbare Ahnung von ihrer Größe und Tiefe. Vor allem lernen sie in dem Buddha eine außerordentliche, überzeugende und packende Persönlichkeit kennen. Sie erleben ihn in völliger Souveränität der Welt, dem Leben und seinen Problemen gegenüber. Sie begegnen einem Menschen, der nichts „für sich" braucht und will und daher nur für andere da sein kann; einen Menschen, der die völlige Identität von Lehre und Praxis repräsentiert.
Bei vielen findet die Tatsache große Anerkennung, daß der Buddhismus nie eine vereinnahmende Art entwickelt hat. Schon sein Gründer hat als Lehrer und Berater eine heilsame Position zwischen Nähe und Distanz eingehalten. Seine Lehre bezeichnete er folgerichtig als ehipassiko, als einladend: „Komm und sieh' selbst." Er hat Hilfe angeboten, wo sie erwünscht war, Fragen beantwortet, wo sie gestellt wurden. Der Buddha war nie (in einem negativen Sinn) missionierend (schon gar nicht gewaltsam) und hat sich lediglich als „Wegweiser" verstanden. Dazu paßt seine Ablehnung aller Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Lehrern und Schülern und die Ermutigung zu Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, die von ihm stets ausging. Jegliches „institutionelle" Interesse war ihm fremd; ihm ging es nicht um die Zahl der Nachfolger, um Ansehen oder materielle Vorteile. Glücklicherweise spiegelt sich vieles von dem auch heute noch im Buddhismus als „organisierter Religion" wider.
Wenn ich von einer gewinnenden Grundhaltung des Buddhismus spreche, habe ich auch seinen Wahrheitsanspruch im Auge. Der Buddha reklamierte für sich die Erkenntnis der höchsten und letzten Wahrheit, er reklamierte diesen Wahrheitsanspruch aber nicht exklusiv. Sicher gilt der Buddha als ein Erwachter, Heiliger, völlig Erlöster; er gilt als unübertroffener und auch nicht übertreffbarer Lehrer. Doch die von ihm verkündeten Wahrheiten sind universell, sie sind nicht das ausschließliche Vorrecht einer einzigen historischen Religion oder eines einzigen Religionsgründers. Höchste Verwirklichung und Erlösung sind bei anderen ebenfalls möglich - und immer wieder im Laufe der kosmischen Entwicklungen haben Menschen tatsächlich zu ihr gefunden. Aus diesen Feststellungen erklärt sich die Betonung der Gemeinsamkeiten der Religionen und spirituellen Traditionen. Sie sind existentielle Grundlage für ein solidarisches Verhältnis aller spirituellen Traditionen zueinander.
3) Ganzheitlicher Ansatz
Es ist oft die Frage aufgeworfen worden, ob der Buddhismus eine Religion ist. Tatsächlich ist der dhamma eine umfassende Weisheits- und Wirklichkeitslehre jenseits der engen Grenzen westlicher Einteilungen und Zuordnungen. Die buddhistische Spiritualität beruht auf einem ganzheitlichen Ansatz und kann nur in der Zusammenschau ihrer verschiedener Momente verstanden werden.
Dieser Ansatz ist der Gegenpol zu einer Fragmentierung der Wirklichkeit und einer überbetonten Spezialisierung, die eine unübersehbare Menge von Detailwissen anhäuft und dabei eine integrierende Gesamtschau nicht mehr zustande bringt. Ein fehlender Überblick muß zu Verunsicherung und Orientierungslosigkeit mit all ihren negativen Folgen führen - im weltlichen wie im spirituellen Bereich. Die umfassende Differenzierung der westlichen Gesellschaften und die mit ihr einhergehende zunehmende Komplexität des Lebens des einzelnen verlangen nach einem einheitlichen, kohärenten Weltbild als Alternative. Die Lehre des Buddha bietet Ansätze hierzu, die unseren überkommenen Religionen weitgehend verlorengegangen sind.
Eine ganzheitliche Sicht führt zu einem ganzheitlichen Schulungsweg. In der buddhistischen Praxis ist der Mensch daher bezüglich aller Formen seiner Lebensäußerung angesprochen, nämlich: Körper, Rede und Geist. Dazu jedoch nur einige Stichworte. Was den Körper betrifft, ist die Schulung des (sichtbaren) Verhaltens (äußerer Aspekt der Ethik; Tun und Lassen mit dem Körper) ebenso gemeint wie auch spezielle Körperübungen (Niederwerfungen, Gehmeditation, „Kampfkünste" und so weiter). Daneben geht es aber auch um die Kultivierung der menschlichen Sinnesfähigkeit und Sinnestätigkeit (Sinneswahrnehmungen als Meditationsobjekte; Achtsamkeit und Bewußtheit im Zusammenhang mit allen körperlichen Aktivitäten), wobei der Tantrismus die menschliche Sinnlichkeit sogar ganz explizit als Instrument der Befreiung benutzt. Wichtiger Bestandteil der buddhistischen Ethik ist außerdem der verantwortungsvolle Umgang mit der Rede. Mit Sprache gezielt, qualifiziert und vor allem heilsam umgehen zu lernen, ist ein wichtiges Übungs- und Arbeitsfeld. Selbstverständlich wird schließlich den unterschiedlichen Aktivitäten des Geistes eine ganz herausragende Beachtung zuteil. In der buddhistischen Spiritualität richtet man sein Augenmerk sehr intensiv auf das Denken und die Beobachtung der Gedanken. Sie legt größten Wert auch auf die Begegnung mit den eigenen Gefühlen, Emotionen, Gewohnheiten, bewußten und unbewußten Motiven, Ängsten und so weiter. Sie gilt es zu beherrschen und nicht von ihnen beherrscht zu werden.
4) Methodische Anleitung zu Meditation und Geistesschulung
Eine bemerkenswerte Besonderheit des Buddhismus ist seine lange und reichhaltige Erfahrung mit einer spezifischen Geistesschulung und ihrer methodischen Anleitung. Der Buddhadharma ermöglicht seinen Anhängern eine enge Verbindung seiner Anschauungen mit einer systematischen Entwicklung des Geistes, die über das intellektuelle Verständnis und Wissensvermittlung hinausgeht. Eine solche religiöse Praxis versteht sich als gezielte Veränderung und Transformation der eigenen Persönlichkeit, und ihr Zweck sind die bewußte Charakterbildung und Entfaltung des eigenen geistig-seelischen Potentials. Alle Anleitungen sind zugleich Hinführung zu unmittelbarem und eigenem religiösem Erleben.
In diesem Prozeß kommt der Meditation eine kaum zu überschätzende Rolle zu; sie ist unverzichtbarer Bestandteil der buddhistischen Spiritualität. Stille und Einsicht sind gleichermaßen Wesensmerkmale der Meditation. In ihr geht es einerseits um innere Reinheit und Harmonie, um Ausgeglichenheit und Gelassenheit, um Zufriedenheit, inneres Glück und tiefen Frieden. Andererseits zielt sie auf direkte Einsicht in die wahre Natur der Dinge und des Geistes. Sie entfaltet die Fähigkeiten unseres Geistes, realitätsnäher und weniger illusionsbestimmt zu sein und die Daseinswirklichkeit unverzerrt zu sehen. Meditation ist die gezielte und planmäßige Begegnung mit sich selbst und seinen unbekannten, unbewußten, verdrängten und ungeliebten Seiten.Sich dem Buddhismus zuzuwenden heißt in diesem Zusammenhang, in Kontakt mit einem über Jahrhunderte gereiften und vertieften Wissen zu kommen, das eine Vielzahl von ausgefeilten „Techniken" und erprobten Methoden beinhaltet. Und gerade im Westen ist es heute ausgesprochen leicht möglich, von der Kenntnis erfahrener Lehrerinnen und Lehrern zu profitieren.
5) Wissenschaftlichkeit
Buddhistische Religiosität besitzt eine doppelte Grundlage: saddha und panna, wie es im Pali heißt. Saddha ist eine innere Haltung und Einstellung, der annäherungsweise der „Glaube" des Christentums entspricht. Das meint zunächst ein grundlegendes Vertrauen in den Buddha, seine Lehre und die buddhistische Gemeinschaft. Glaube im buddhistischen Sinn ist Offenheit für neue Sichtweisen, geistige Beweglichkeit und innere Nähe zu dem Höheren, Weiteren, Größeren unserer Existenz. Man weiß noch nicht definitiv, hat aber eine Ahnung, vielleicht sogar eine Gewißheit von einer anderen und freieren Wirklichkeit. Schon daraus erwachsen Hingabe und Begeisterung für das Ziel und die spirituelle Praxis.
Panna bedeutet Weisheit. Die buddhistische Lehre ist erfahrungsbezogen und betrachtet die eigene Einsicht als unabdingbar für die Erlösung. Dem dharma sind Erkennen und Wissen wesentlich. Stets lädt der Buddha ein, selber zu sehen und seine Mitteilungen in der eigenen Erfahrung bestätigt zu finden: die vordergründigeren wie die tiefsten. Nicht um bloße Vermutungen oder um das blinde Akzeptieren irgendwelcher Glaubenssätze geht es, sondern um die Entdeckung der Wirklichkeit durch uns selbst. Der Buddhismus ist antidogmatisch. Die Daseinsgesetzlichkeit als solche ist letzte Autorität, nicht Personen und ihre Lehren sind es, nicht einmal Religionsgründer. Seinem Anspruch nach ist der Buddhismus durchaus eine Wissenschaft, die den Wahrheitsgehalt religiöser Aussagen ebenfalls nachprüfbar macht. Meine These ist, daß der westliche Mensch auch in religiösen Dingen im Einklang mit seiner Vernunft leben will. Emotionale Hingabe und „Glaube" müssen in Harmonie mit den Forderungen des Verstandes kommen. Die Widerspruchslosigkeit zwischen weltlicher und religiöser Wissenschaft muß möglich sein, und ich sehe hier erfolgversprechende Ansätze, voneinander zu lernen und Gräben einzuebnen. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die gelegentlichen Dialoge von Buddhisten und Exponenten der modernen Physik, die beispielsweise unser Verständnis der Materie unter neuen Blickwinkeln thematisieren.
6) Tiefe der Lehre
Der entscheidende und wesentliche Grund aber, sich dem Buddhadharma zuzuwenden, ist letztlich die Tiefe der buddhistischen Lehre selbst. Um das zu verdeutlichen, komme ich erneut auf die Erfahrung der Unzulänglichkeit (dukkha) des Lebens und der gesamten Existenz zurück und auf den unveräußerlichen Wunsch aller Wesen nach Wohl und nach Vermeidung von Elend. Problemlos kann man die weltliche und geistige Geschichte der Menschheit unter dieser Perspektive sehen und sie als ein (alles in allem erfolgloses) Experimentieren mit diesem Thema begreifen.
Die Religionen ähneln sich in dem gemeinsamen Grundanliegen und in ihren Ratschlägen, wie mehr Glück und innerer Frieden zu erreichen sind. Vielleicht sind ihre Ausdrucksweisen verschieden, ihr Erfahrungsschatz ist vergleichbar. Aus buddhistischer Sicht lassen sich vier unterschiedliche und aufeinander aufbauende Ebenen spiritueller Anschauung und Praxis unterscheiden, die ich an dieser Stelle jedoch nur nennen kann.
Die Sehnsucht des Menschen nach Glück ist absolut. Es soll das höchst mögliche sein, beständig und ungefährdet. Das verlangt nach letzten, endgültigen Antworten und Lösungen. Unvollkommenheit kann nur dann gänzlich überwunden werden, wenn es gänzlich verstanden und durchschaut wurde. Daraus ergeben sich zwei Fragen an die Religionen: Wie weit reichen Leiden und Unvollkommenheit (dukkha) eigentlich? Und: Auf welche Weise sind sie restlos und für immer zu überwinden?
Ich habe von dem gemeinsamen Grundanliegen der Religionen gesprochen und von den Gemeinsamkeiten ihrer Empfehlungen. Hier ist der Punkt erreicht, an dem bedeutsame Unterschiede der spirituellen Wege sichtbar werden können: nämlich bezüglich der „Reichweite" des Verständnisses von dukkha und der praktischen Unterstützung auf dem Befreiungsweg. Die Behauptung des Buddha, eine völlige und dauerhafte Lösung aller Problematik der Existenz zu kennen und zu lehren, habe ich ebenfalls schon erwähnt. Dabei kennt seine Lehre die vier Stufen religiöser Anschauung und Praxis, die ich gerade skizziert habe und die in den einzelnen Religionen recht unterschiedliche Berücksichtigung finden. Doch fügt der Buddha eine weitere und entscheidende hinzu. Sie ist in den sogenannten „Vier Edlen Wahrheiten" formuliert und macht das Besondere und ganz spezifische des Buddhadharma aus.
Im Kern geht es darum, daß ausnahmslos alle Erscheinungen des Daseins drei charakteristische Merkmale besitzen: Vergänglichkeit, Unvollkommenheit und Substanzlosigkeit. Eine umfassende Möglichkeit der Befreiung besteht nach dieser Erkenntnis nicht innerhalb von „Welt", „Leben", „Existenz" (auch einer „himmlischen" oder „göttlichen" nicht), sondern nur außerhalb von allem Entstandenen, Gewordenen und Bedingten. Das ist es, was die Buddhisten Nirvana nennen, und viele Menschen fühlen sich gerade von dieser äußersten Denk- und Erlebensmöglichkeit angezogen, die sie in anderen Religionen (wenigstens gegenwärtig) nicht finden. Und das ist der eigentliche Grund für sie, die abendländische Tradition zu verlassen.
Ich möchte den Versuch machen, bei meiner Darstellung nicht allzu sehr zu idealisieren, und werde deshalb das bisher Gesagte unter verschiedenen Gesichtspunkten relativieren. Dabei erinnere ich an dieser Stelle noch einmal an unser Thema: „Buddhist werden in der westlichen Gesellschaft - Motive und Erwartungen".
Wenn ich über die Motive gesprochen habe, die viele Menschen bewegen zu konvertieren, war diese Darstellung eher idealtypisch und (zum Beispiel auf meine Person bezogen) zurückschauend. So mag das Motiv, „Buddhist zu werden", ein anderes sein als das Motiv, „dabeizubleiben" und „weiterzumachen". Anfangs mögen ein nicht näher bestimmbares Vertrauen, eine Ahnung von der Größe der Lehre, ein nicht begründbares Hingezogenfühlen maßgeblich sein, um die Auseinandersetzung mit einer fremden Anschauung zu suchen. Bald wird man aber feststellen, daß man sich diese Lehre „erarbeiten" muß und sie nur das bietet, was man in ihr entdeckt und verwirklicht. Erst später kommt die eigene spirituelle Erfahrung hinzu, die Bestätigung und neue Perspektiven, Vertiefung und Korrekturen von Sichtweisen bringen. Daher ist es nicht ungewöhnlich, daß sich die Beweggründe des „Buddhistwerdens" und des „Buddhistseins" im Laufe der Zeit durchaus ändern.
Ein weiterer Aspekt der Relativierung ist, daß es „die" Motivationslage „des" Buddhisten oder „der" Buddhistin nicht gibt. Der Entschluß für den neuen Weg fällt zudem meist weniger rational, meist weniger klar und reflektiert. In aller Regel sind die Gründe für eine solche Entscheidung auch nicht so umfassend wie oben geschildert und bei dem einzelnen natürlich ganz unterschiedlich gewichtet.
Nicht selten sind die tatsächlichen Anstöße sogar sachfremd. Gerade in den letzten Jahren ist der Buddhismus so etwas wie eine Modeerscheinung gewesen, die ein verstärktes öffentliches Interesse gefunden hat. Buddhismus ist vorübergehend zu einem Medienereignis geworden, und seine Wertschätzung machte sich vielfach daran fest, daß sich Prominente - vor allem aus der Unterhaltungsbranche - zu ihm bekannten. Ihnen wollte man es dann gleichtun.
Anderen genügen schon das exotisches Flair, das Interesse an Fremdem und die folkloristischen Elemente des Buddhismus, um sich zu ihm zu bekennen. Ein weiterer Aspekt gerade in diesem Zusammenhang ist die große Anziehungskraft des alten Mythos um Tibet, das idealisierte Bild einer vermeintlich ursprünglichen und heilen spirituellen Welt, die für manchen ausschlaggebend ist.
Psychologische Gesichtspunkte sind ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Mit dem Bekenntnis zum Buddhismus können leicht andere Bedürfnislagen kompensiert werden. Die Begegnung mit einer beeindruckenden Persönlichkeit, einem „Meister" oder einem großen Lehrer wecken oder nähren die Sehnsucht nach einer Vaterfigur oder zeigen neue Identifikationsmöglichkeiten. Außerdem: Buddhistsein heißt für viele, etwas Besonderes zu sein, sich von den anderen abzuheben und so sein Ego auf eine originelle Art zu bestätigen anstatt es zu minimieren.
Schließlich ist „Buddhismus" für viele zu einer ökonomischen Chance geworden. Er macht die erfolgreiche Vermarktung der unterschiedlichsten Güter unter einem positiv besetzten Etikett möglich. Der Verkauf von Büchern, Kursen, rituellen Gegenständen, ja sogar von „Heilung" und „Erlösung" ist zu einem recht gutgehenden Geschäft geworden. Religiöse Motive bleiben da oft völlig auf der Strecke.
Buddhisten sollten kritisch genug sein, ihre Erwartungen und Ideale und die Realität zu unterscheiden. Sie sollten wissen, was die Weisheitslehre des Buddha (dhamma) und was „Buddhismus" (sasana) ist. Dhamma ist das Ursprüngliche und Entscheidende: die verkündete Wirklichkeit und das verheißene Ziel. Niemand geht zu weit, wenn er oder sie die Person des Buddha und sein Wirken als überragend, tadellos und vollkommen betrachtet. Die Substanz seiner Lehre ist noch weitestgehend in der Tradition beziehungsweise in seinem überlieferten Wort bewahrt. Sie gilt es aufzuspüren und immer wieder fruchtbar werden zu lassen.
Buddhismus ist inzwischen aber auch zu einem umfassenden Lehrgebäude und zu einer großen institutionalisierten Religion geworden. Hier müssen Ideale und Realität auseinandergehen, weil eine Schwierigkeit prinzipiell nicht zu umgehen ist: nämlich etwas Vollkommenes von unvollkommenen Menschen zu bewahren und weiterzugeben. Die Mängel aller organisierten Religionen finden sich im Buddhismus ebenfalls. Neben den allgemeinen menschlichen Schwächen und Mißverständnissen bezüglich der religiösen Botschaft ist zum Beispiel die im Laufe der Zeit einkehrende Entfremdung von der tieferen Spiritualität zu nennen. Veräußerlichung und Verflachung hinsichtlich des Verständnisses und der Praxis scheinen unausweichlich. Intellektualisierung und scholastische Tendenzen, Dogmatisierung und geistlose Ritualisierung sind weitere Degenerationserscheinungen. Nicht selten tritt an die Stelle der befreienden Religiosität die Religion, mit der persönliche, materielle oder andere Interessen verknüpft sind und die bestimmten Menschengruppen sogar Grundlage ihres Lebensunterhaltes ist und oft nur noch deshalb wichtig genommen wird. Institutionalisierung, das Entstehen von Hierarchien mit ihren Machtansprüchen, Verfestigung von Abhängigkeiten, Prestigedenken und Streben nach Ruhm und Anerkennung sind weitere Stichworte.
Auch hier besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Religionen, doch verfügt der Buddhismus im Westen über einen historisch bedingten, wenn auch vorübergehenden Vorteil. In Europa ist er eine Religion im Aufbruch, noch befindet er sich in einem Stadium des Aufbaus und des Wachstums, des Lernens und des Erprobens. Er hat Inspiration und Frische. Seine Anhänger zeigen eine hohe Identifikation, überdurchschnittliches Engagement sowie eine starke und reine Motivation. Verkrustungserscheinungen auf der organisatorischen Ebene sind noch weniger erkennbar. Damit einher geht eine starke Idealisierung des Ostens. Die deutlichen Schwächen des Buddhismus in seinen Heimatländern sind kaum bekannt oder werden nicht zugegeben. Mißstände werden nicht in ihrem tatsächlichen Ausmaß gesehen, und allenthalben zutage tretende Skandale und Mißbräuche werden weniger ernst genommen, wenn nicht gar uminterpretiert.
Kann der „Buddhismus" in Europa die Wiederholung der gleichen Fehler vermeiden? Wird es eine geschichtliche Sonderrolle des Buddhismus geben? Ich denke, nein! Der Buddha selbst hat den Niedergang vorausgesagt, den Verlust der reinen Lehre und der vollkommenen Praxis prophezeit. Um so wichtiger ist, um diese Prozesse zu wissen und ihnen - soweit und so lange wie möglich - entgegenzusteuern. Das ist möglich, solange sich die Buddhistinnen und Buddhisten mit dhamma (der zeitlosen Wirklichkeit) identifizieren und die dagegen relative Bedeutung des sasana (der historisch ausgestalteten Religion) sehen.
Für die Fragen von Prof. Pesch bin ich sehr dankbar. Sie rühren an einige Kernthemen der (buddhistischen) Spiritualität und führen dorthin, wo der „eigentliche" Dialog zwischen Christentum und Buddhismus fruchtbar werden kann. Eine Antwort fällt vor allem deshalb schwer, weil sie sich in dem vorgegebenen Rahmen außerordentlich beschränken muß und deshalb nicht viel mehr sein kann als die „Nennung von Überschriften" zu Kapiteln eines Dialoges, die erst noch zu schreiben sind.
1) „Ein anderer Mensch werden"
Der Buddha charakterisiert unsere Lebenssituation als bestimmt durch Unwissenheit. Die Ursachen für unsere falsche Sichtweise der Realität sind „Gier" und „Haß" beziehungsweise Verlangen und Abneigung. Diese seelischen Tendenzen lassen uns die Dinge nicht so sehen, wie sie wirklich sind, sondern „gefärbt" und vorurteilsbeladen. Eine unverzerrte Sicht aber ist die Voraussetzung für unsere Befreiung. Wenn wir sie also erlangen wollen, setzt das voraus, daß wir „andere Menschen werden"; solche, die weniger von ihrem subjektiven Mögen und Nichtmögen beeinflußt sind. Wie eine solche Wandlung geschehen kann, zeigt der Buddha (Ethik, Meditation etc.). Wir können „anders werden", weil wir das Potential dazu ebenfalls besitzen. Wo Haß existiert, gibt es auch die Fähigkeit der Liebe, wo es Begehren gibt, ist auch Loslassen möglich.
„Anders werden" ist ein konventioneller Ausdruck, der einer praktisch orientierten Sicht des Lebens entspricht. Daneben ist eine weitere Perspektive der Betrachtung möglich. Tatsächlich bezeichnet der Buddha unser „Herz" als rein und „strahlend". Gewöhnlich ist es jedoch durch negative Eigenschaften und Gewohnheiten verunreinigt. So gesehen brauchen „wir" nicht anders oder andere werden. Es gilt lediglich, diese Unreinheiten - die gar nicht wesensmäßig zu uns gehören - zu beseitigen. Ich will ein gängiges Gleichnis dafür anfügen: Der Himmel ist stets strahlend blau, aber oft von dunklen Wolken verhangen. Der Himmel braucht sich nicht zu wandeln; wenn seine Verdunklungen beseitigt werden, leuchtet er. Das hat er immer getan, auch wenn wir es nicht sahen.
2) Buddhistischer Imperativ?
Du „mußt" ein anderer Mensch werden, ist nicht als ein Imperativ zu verstehen, sondern als Beschreibung eines sachlichen Zusammenhanges. Vielleicht ist folgende Analogie hilfreich: „Du mußt eine Arznei nehmen, um gesund zu werden!" Hier ist das Einnehmen der Medizin die Bedingung für die Gesundung, aber kein Imperativ. Ein guter Arzt empfiehlt und verschreibt Medikamente, er übt aber keinen Zwang aus. Der Patient ist frei, die Mittel einzunehmen oder nicht. Ja, er ist frei, ob er überhaupt gesund werden will. Der Buddha hat sich selbst als Arzt und genauso als Wegweiser bezeichnet, der Ziel und Wegstrecke beschreibt, der es aber jedem überläßt, seinen Ratschlägen zu folgen.
3) „Eigene Anstrengung"
Die buddhistische Lehre versteht sich als eine Wirklichkeitslehre, die beschreiben will, wie die Dinge tatsächlich sind. Ihre Kernaussage: Alle (weltlichen) Phänomene haben Ursachen, sie sind bedingt - auch die eigene Lebens- und Leidenssituation. Veränderte Bedingungen führen zu veränderten Gegebenheiten, und das eigene Verhalten (die eigene Anstrengung) ist eine entscheidende Komponente in diesem Zusammenhang. Viele Buddhisten überbetonen allerdings diesen Aspekt (häufig gegenüber einem ebenso überpointierten Gnadenbegriff), und so erscheint der Buddhismus oft als Weg der bloßen „Selbsterlösung". Der Buddha gibt auf diese Frage eine viel ausgewogenere Antwort und nennt demgegenüber zwei Voraussetzungen für unsere Befreiung: „die Stimme des anderen" (d.h. die Belehrungen eines Buddha oder eines anderen Lehrers) und daneben die „eigene gründliche Auseinandersetzung mit der Realität".
4) Versagen/Übung
Vor „Versagen" brauche ich keine Furcht zu haben, weil es weder „Leistungsdruck" noch einen „Leistungszwang" oder bestimmte „Erwartungen" gibt. Aber: Was nicht getan wird, ist nicht getan, und nur in dem Maße, in dem ich mir helfe, kann mir von anderen geholfen werden (und umgekehrt). Ich muß auch nicht heute oder morgen perfekt sein; es geht darum, die spirituelle Praxis als eine fortgesetzte Übung zu betrachten. Sie kann allerdings irgendwann zur Vollendung gebracht werden, und da der Buddha von Fortexistenz und Wiedergeburt spricht, ist dieser Weg keineswegs auf dieses eine Leben begrenzt.
5) Substanzlosigkeit (des Leidens)
Der Begriff der Substanzlosigkeit bedeutet im buddhistischen Kontext keineswegs „nicht wirklich", „irreal", „scheinhaft" oder ähnliches. Er beschreibt vor allem auf die Tatsache, daß die Erscheinungen der Welt keinen bleibenden und unveränderlichen Kern haben, sondern lediglich aus bestimmten und veränderlichen Bedingungen heraus existieren. Alle Phänomene bestehen nur in Abhängigkeit.
Körperliche und seelische Schmerzen beispielsweise sind ganz reale Schmerzen und nicht bloßer Schein. Aber sie bestehen nicht aus sich und für sich. Nur so lange und so weit ihre Ursachen existieren, sind sie selbst. Alles Leiden in der Welt ist reales Leiden und läßt sich nicht einfach wegdenken oder wegrationalisieren. Es ist wirklich und hat eine oft geradezu bedrückende „Wirk"lichkeit. Aber es ist auch verursacht, gewirkt, verantwortet - und gerade deshalb auch auflösbar und überwindbar.
Es fällt nicht leicht, mit Betroffenen über ihr Leiden und dessen Herkunft zu sprechen. Auch einem Christen fällt es nicht leicht, der ja gleichzeitig von einem allgütigen und allmächtigen Gott reden muß. In mancher Hinsicht tut sich ein Buddhist vielleicht sogar weniger schwer, in diesem Zusammenhang über die eigene Verantwortlichkeit für das Erlebte zu reden, weil sie nicht mit „Schuld" verknüpft ist. Für Buddhisten geschieht unheilsames Handeln aus Irrtum und Blindheit, die es aufzuheben gilt - mehr nicht. Es geht nicht um Urteile oder Verurteilungen, Schuld und Sühne. Und, da die Buddhisten wie gesagt von der Fortexistenz ausgehen, gibt es für sie im tiefsten Grund auch keinen Unterschied zwischen denen, die heute unsagbares Leid erfahren, und anderen, die im Moment davon frei sind. Wir alle leben mehr oder weniger in Unwissenheit und haben deshalb im Laufe der unausdenkbar langen Zeit unserer Daseinswanderung alle schon alles erlebt und werden es weiter tun, solange wir den Weg in die Freiheit nicht finden und gehen.
Leiden hat keinen „Sinn". Es ist! - aus Unwissenheit entstanden. Aber da sein Entstehen und Vergehen aus buddhistischer Sicht erklärbar ist, braucht es nicht hingenommen zu werden. Es kann restlos und für immer getilgt werden. Wieder gilt dabei der Maßstab der Fortexistenz. Es ist gewiß so, daß es uns in diesem einen Leben nicht gelingt, die Leidfreiheit zu erlangen, aber das ist nicht entscheidend. Im übrigen verspricht auch der Buddha keine leidlose Welt, die kann es gar nicht geben. Aber Freiheit vom Leiden, die gibt es.
6) Platonisierende Denkweise
Der Buddha betont immer wieder den Realismus seiner Lehre, die eine reine Wirklichkeitslehre sein will. Sein Urteil über die (materielle) Welt basiert auf minuziöser Beobachtung. Die Welt wird nicht „abgewertet", sondern in ihrer tatsächlichen Beschaffenheit beschrieben und zwar als vergänglich, uns nie ganz erfüllend und bedingt entstanden. Der Buddha war nicht weltverliebt, und er hat sie nicht verachtet, er hat nur ihre Gewordenheit und ihre Unzulänglichkeit durchschaut und deshalb völlig von ihr gelassen. Nur so konnte er das Unnennbare, Ungestaltete, aber Leidlose finden, den makellosen Frieden, Nirvana.